Sehschwächen sind in Deutschland viel häufiger als bisher vermutet

Gutenberg-Gesundheitsstudie der Universitätsmedizin Mainz liefert erstmals fundierte Zahlen zur Häufigkeit von Schwachsichtigkeit in Deutschland

31.08.2015

Rund 5,6 Prozent der Deutschen im Alter von 35 bis 44 Jahren leidet an starker Schwachsichtigkeit, die durch Sehhilfen nicht mehr zu korrigieren ist. Das ist deutlich mehr als von Studien aus anderen Ländern bekannt. Die sogenannte Amblyopie hat ihren Ursprung im Säuglings- oder Kindesalter und kann auch nur in jungen Jahren erfolgreich durch Behandlung beseitigt werden. Jede zweite Amblyopie entsteht durch im Kleinkindesalter nicht korrigierte Brechkraftfehler wie beispielsweise Kurzsichtigkeit, Weitsichtigkeit oder Stabsichtigkeit oder unterschiedliche Brechkraft beider Augen. Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Augenklinik der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Sie werteten Daten der populationsbasierten Gutenberg-Gesundheitsstudie aus und fanden heraus, dass sich bei 48 Prozent der Betroffenen die Amblyopie auf eine unterschiedliche Fehlsichtigkeit beider Augen zurückführen lässt. Rund 23 Prozent entwickelten Schwachsichtigkeit, weil sie von Geburt an schielten. Bei 18 Prozent ist eine Kombination aus Schielen und Fehlsichtigkeit ausschlaggebend. Diese Daten sind vor allem deswegen wichtig, weil es in Deutschland noch immer kein augenärztliches Vorsorgeprogramm für Kinder gibt. Die Ergebnisse der Studie wurden im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht.

"Zu spät oder unbehandelt bleibt eine Amblyopie, auch Schwachsichtigkeit genannt, eine lebenslange Bürde. Das Risiko für eine beidseitige schwere Sehbehinderung oder gar den Verlust des besseren Auges ist bei Patienten mit einseitiger Amblyopie zwei- bis dreimal höher als bei Personen ohne Amblyopie", so der Direktor der Augenklinik und Poliklinik der Universitätsmedizin Mainz, Prof. Dr. Norbert Pfeiffer. Die Behandlung einer Amblyopie muss daher frühzeitig begonnen werden – nämlich deutlich vor dem siebten Lebensjahr. Je älter das Kind und je weiter fortgeschritten die sogenannte visuelle Reifung bei Therapiebeginn ist, desto unwahrscheinlicher ist ein Therapieerfolg.

"Mit den vorliegenden Daten liegt erstmals eine Schätzung der Verbreitung von Amblyopie in Deutschland vor. Unser Ziel war es, mehr über die Häufigkeit der jeweiligen Ursachen der Erkrankung zu erfahren. Diesem Anspruch wird die Studie in vollem Umfang gerecht", erklärt Oberärztin Dr. Heike Elflein von der Augenklinik und Poliklinik der Universitätsmedizin Mainz, unter deren Regie die Studie entstanden ist. "Die Daten sind nicht nur für Augenärzte wichtig, sondern auch für Kinder-, Jugend- und Hausärzte, die im Rahmen von Kindervorsorgeuntersuchungen eine Amblyopie erkennen müssen", so Elflein.

Für die Studie werteten die Wissenschaftler die Daten von insgesamt 3.286 Personen zwischen 35 und 44 Jahren aus. Bei 182 Probanden mussten sie eine Amblyopie feststellen. Das für sie ermittelte Visuskriterium – der Grenzwert für diese Art der Sehbehinderung – lag bei einer Sehschärfe von 0,63 oder geringer (Normwert 1,0). Die Daten wurden im Rahmen des augenärztlichen Teils der Gutenberg-Gesundheitsstudie erhoben.

Von den 40- bis 44-jährigen Probanden waren weit mehr an Amblyopie erkrankt als von den 35- bis 39-jährigen. Die Wissenschaftler der Universitätsmedizin Mainz führen dies auf die Okklusionstherapie, die Abdeckung des Führungsauges, zurück, die sich ab den 1960er-Jahren in Deutschland zu etablieren begann. "Bei den jüngeren Probanden wurde diese Therapie vermutlich häufiger durchgeführt als bei den älteren. Das würde zumindest erklären, warum bei den 35 bis 39-Jährigen vergleichsweise weniger von Amblyopie Betroffene sind“, so Elflein. Hiermit ergibt sich auch ein sehr starkes Argument für die Wirksamkeit der Amblyopietherapie bei Kindern, die vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) grundsätzlich in Frage gestellt worden war, weil es keine Studien zur Prävention gebe. Diese Lücke, so die Wissenschaftler, wurde nun geschlossen.