Kurzsichtigkeit nimmt mit höherer Bildung und längerer Schulzeit zu

Wissenschaftliche Studie der Universitätsmedizin Mainz belegt Zusammenhang zwischen Bildung und Kurzsichtigkeit

10.07.2014

Bildung und Verhalten haben einen größeren Einfluss auf die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit als genetische Faktoren: Mit jedem absolvierten Schuljahr wird ein Mensch kurzsichtiger. Je höher der Schulabschluss, umso stärker ist die Fehlsichtigkeit. Zu diesem Ergebnis sind Wissenschaftler der Augenklinik der Universitätsmedizin Mainz im Rahmen der ersten populationsbasierten Studie zu dieser Erkrankung gelangt. Kurzsichtig ist ein Auge, dessen Augapfel im Verhältnis zur Brechkraft von Hornhaut und Linse zu lang ist. Als Folge werden weit entfernte Objekte unscharf auf der Netzhaut abgebildet. Der Augapfel wächst bis ins Erwachsenenalter, so dass eine Myopie auch noch im dritten Lebensjahrzehnt zunehmen kann. Nachgewiesen ist, dass sowohl genetische Veranlagungen als auch Umweltreize bei der Entwicklung der Kurzsichtigkeit eine Rolle spielen.

Unter der Leitung von Prof. Dr. Norbert Pfeiffer und PD Dr. Alireza Mirshahi haben Wissenschaftler der Augenklinik und Poliklinik der Universitätsmedizin Mainz eindeutige Belege dafür gefunden, dass ein höherer Bildungsgrad und eine höhere Anzahl an Schuljahren zwei Faktoren sind, die mit einem häufigeren Auftreten und einem erhöhtem Schweregrad von Kurzsichtigkeit einhergehen. Die Forschungsergebnisse, die im Rahmen der populationsbasierten Gutenberg-Gesundheitsstudie (GHS) der Universitätsmedizin Mainz gewonnen wurden, liefern den Nachweis, dass diese Faktoren eine größere Wirkung auf die Sehkraft und die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit haben als genetische Faktoren. Der Artikel der Mainzer Forscher ist soeben in der Fachzeitschrift Ophthalmology der American Academy of Ophthalmology erschienen.

Kurzsichtigkeit ist seit Langem weit verbreitet, doch in den letzten Jahren hat ihre Häufigkeit weltweit stark zugenommen – mit allen belastenden Folgen für Gesundheit und Wirtschaft. Starke Kurzsichtigkeit ist eine Hauptursache von Sehbehinderung und eng verbunden mit einem erhöhten Risiko für Folgeerkrankungen wie Netzhautablösung, Makuladegeneration, vorzeitigem Grauen Star und Glaukom. Industrialisierte asiatische Länder berichten von einer starken Zunahme von Kurzsichtigen um bis zu 80 Prozent. Der schnelle Anstieg lässt vermuten, dass Faktoren der Freizeit- und Lebensgestaltung eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehören sogenannte Naharbeiten wie beispielsweise Lesen, Computerarbeit und höhere Bildung.

Um den Zusammenhang zwischen der Entwicklung einer Kurzsichtigkeit und Bildung weiter zu analysieren, haben die Forscher der Universitätsmedizin Mainz 4.658 Personen im Alter von 35 bis 74 Jahren untersucht, die weder einen Grauen Star hatten, noch an den Augen operiert oder gelasert waren. Ihre im Rahmen der Gutenberg-Gesundheitsstudie gewonnenen Erkenntnisse zeigen, dass Myopie oder Kurzsichtigkeit umso häufiger auftritt, je höher der Bildungsgrad ist: Nur 24 Prozent der Kurzsichtigen hatten keine Ausbildung oder höhere Schulbildung, während von den Probanden mit Abitur oder Berufsabschluss schon 35 Prozent kurzsichtig waren. Dagegen wiesen nicht weniger als 53 Prozent der Hochschulschulabsolventen eine Kurzsichtigkeit auf.

Zusätzlich zum erreichten Bildungsniveau haben die Mainzer Wissenschaftler mit der Anzahl der Schuljahre einen weiteren Einflussfaktor ausfindig machen können. Mit jedem zusätzlichen Schuljahr steigt die Wahrscheinlichkeit, kurzsichtig zu werden. Darüber hinaus untersuchten die Forscher um PD Dr. Alireza Mirshahi die Auswirkungen von 45 genetischen Faktoren. Es stellte sich heraus, dass diese im Vergleich zum Bildungsgrad einen weitaus geringeren Einfluss auf den Schweregrad einer Kurzsichtigkeit haben.

Wie kann der beobachteten Entwicklung nun entgegengewirkt werden? Heilen im herkömmlichen Sinne lässt sich Kurzsichtigkeit nicht, sie lässt sich nur mit Sehhilfen oder mit den Methoden der refraktiven Chirurgie korrigieren. Versuche, das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit mit Medikamenten, mit speziellen Brillengläsern oder Kontaktlinsen zu bremsen, waren bisher wenig erfolgreich. Studien der letzten Jahre von Kindern und jungen Erwachsenen in Dänemark und Asien haben gezeigt, dass ein Mehr an im Freien verbrachter Zeit sowie eine höhere Dosis an Tageslicht die Kurzsichtigkeit verringern. Mindestens 15 Stunden pro Woche sind ratsam, zugleich sollten die Augen weniger als 30 Stunden pro Woche mit Naharbeit – Lesen, Fernsehen und die Beschäftigung mit Computern und Smartphones inbegriffen – beschäftigt werden. "Da Schüler und Studierende einem höheren Risiko ausgesetzt sind, an Myopie zu erkranken, ist eine einfache und sinnvolle Präventionsmaßnahme, sie dazu anzuhalten, mehr Zeit im Freien zu verbringen", so der Erstautor der Studie, PD Dr. Alireza Mirshahi.

Die Gutenberg Gesundheitsstudie (GHS) ist eine interdisziplinäre, populationsbasierte, prospektive, monozentrische Kohorten-Studie, die seit 2007 an der Universitätsmedizin Mainz durchgeführt wird. Im Rahmen der Studie werden Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, Augenerkrankungen, metabolische Erkrankungen sowie Erkrankungen des Immunsystems und der Psyche untersucht. Ziel der Studie ist es, die Risikovorhersage für den Einzelnen für diese Erkrankungen zu verbessern. Hierzu werden Lebensstil, psychosoziale Faktoren, Umwelt, laborchemische Parameter sowie das Ausmaß der subklinischen Erkrankung berücksichtigt. Eine umfangreiche Biomaterialbank ermöglicht molekularbiologische Untersuchungen, unter anderem auch in einem systembiologischen Ansatz. Im Rahmen der Basisuntersuchung wurden 15.010 Teilnehmer im Alter von 35 bis 74 Jahren zu einem fünfstündigen Untersuchungsprogramm in das Studienzentrum eingeladen. Nach zweieinhalb Jahren wird ein Computer-assistiertes Telefoninterview (CATI) mit einem standardisierten Interview sowie einer Erhebung von auftretenden Erkrankungen und Beschwerden durchgeführt. Alle Endpunkte werden einer eingehenden Validierung unterzogen. Im April 2012 hat eine erneute ausführliche Nachfolgeuntersuchung der Teilnehmer fünf Jahre nach Einschluss in die Studie im Studienzentrum ähnlich der Eingangsuntersuchung begonnen. Weitere Untersuchungen zur Nachverfolgung der Kohorte sind geplant.