Neue Formel ermöglicht erstmals Berechnung eines wichtigen Streuprozesses in der Teilchenphysik

Erkenntnisse des Mainzer Kernphysikers Harvey Meyer nähern theoretische und praktische Physik auf wichtigem Forschungsfeld an

18.08.2011

Theorie und Praxis klaffen manchmal auseinander. Das gilt zuweilen auch für die Physik, wenn sie die Prozesse im Innersten der Materie beschreiben und erklären will. Während Experimentalphysiker immer genauere Messungen vornehmen und tiefer in die Bestandteile der Materie vordringen, stoßen die Modelle der Theoretiker zunehmend an ihre Grenzen. Juniorprof. Dr. Harvey Meyer, theoretischer Physiker am Institut für Kernphysik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), hat nun eine Formel entwickelt, die eine wesentlich genauere Berechnung bestimmter wichtiger Prozesse bei subatomaren Teilchen ermöglicht. Zum einen zeigt er damit, dass auch dynamische, zeitabhängige Größen mittels Computersimulationen gerechnet werden können. Zum anderen könnte dadurch eine Annäherung an die Ergebnisse der Experimentalphysiker auf einem wichtigen Forschungsfeld erfolgen.

Meyer entwickelte seine Formel für einen wichtigen sogenannten Streuprozess bei Elementarteilchen: die Kollision von einem Elektron und seinem Antiteilchen, dem Positron. Bei dem Zusammenstoß verschwinden beide Teilchen, es kommt zur Paarvernichtung und es entstehen nun zwei unterschiedlich geladene Pionen. Ein Pion ist kein Elementarteilchen, sondern es besteht aus Quarks und Gluonen.

Die Tatsache, dass die Pionen eine komplexe innere Struktur haben, macht die Rechnung des Streuprozesses mit traditionellen Methoden unmöglich. Meyers Formel baut auf dem Vorschlag von Dr. Michael Creutz aus den 1970er-Jahren auf, wonach die komplexe Dynamik der Quarks und Gluonen stattdessen mittels Computersimulationen berechnet werden kann. Creutz ist Wissenschaftler am Brookhaven National Laboratory auf Long Island im US-Bundesstaat New York und derzeit als Forschungspreisträger der Alexander von Humboldt-Stiftung zu Gast bei Prof. Dr. Hartmut Wittig am Institut für Kernphysik der JGU. In seiner Arbeit "Lattice QCD and the Timelike Pion Form Factor" beschreibt Juniorprof. Dr. Harvey Meyer nun, wie der dynamische Prozess bei der Teilchenkollision zu berechnen ist. Er verwendet dazu einen Trick, den zuvor die Physiker Prof. Dr. Laurent Lellouch und Prof. Dr. Martin Lüscher auf den Zerfall eines Kaons in zwei Pionen angewandt haben und der darauf basiert, dass die Dynamik der Pionen in ihren stationären Quantenzuständen in einem begrenzten Volumen verschlüsselt ist. Die neue Formel zeigt, wie der Streuprozess aus diesen Quantenzuständen bestimmt werden kann und macht ihn dadurch für Computersimulationen zugänglich.

Die Bedeutung dieses Prozesses liegt insbesondere darin, dass er den Beitrag der Quarks und Gluonen zum magnetischen Moment des Myons, ein sehr wichtiger Indikator in der Teilchenphysik, bestimmt. Die bislang genaueste direkte Messung des magnetischen Moments wurde im Jahr 2001 in einem Experiment am Brookhaven National Laboratory erzielt. Sie entspricht ungefähr der Bestimmung der Distanz zwischen Paris und New York mit einer Genauigkeit von einem Millimeter. Die theoretische Rechnung derselben Größe anhand des Standardmodells der Teilchenphysik, das die derzeit noch gängige Theorie darstellt, um die Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen zu beschreiben, ergibt ein deutlich abweichendes Ergebnis. "Es ist wichtig, die Prozesse so genau und verlässlich wie möglich auszurechnen", so Meyer. "Denn ein Unterschied zwischen Theorie und Experiment beim magnetischen Moment des Myons könnte auf neue Teilchen jenseits des Standardmodells hinweisen." Bisher wurde der schwer zu berechnende Beitrag der Quarks und Gluonen zum magnetischen Moment des Myons über den Prozess der Elektron-Positron-Paarvernichtung ausgedrückt und experimentell gemessen. Nun ist es auch möglich, diesen Prozess mittels Computersimulationen zu berechnen und dies mit der experimentellen Messung zu vergleichen.

Neue Messungen des magnetischen Moments des Myons sind derzeit am US-amerikanischen Fermilab nahe Chicago in Planung. Sie lassen eine viermal größere Genauigkeit gegenüber den bisherigen experimentellen Daten erwarten, was eine entsprechende Verfeinerung der Vorhersage des Standardmodells verlangt. Die Mainzer Experimentalphysiker Prof. Dr. Achim Denig und Dr. Miriam Fritsch tragen dazu wesentlich bei, indem sie experimentelle Elektron-Positron-Präzisionsdaten sorgfältig analysieren. Gleichzeitig steuern Theoretiker um Prof. Dr. Hartmut Wittig neue Beiträge zur theoretischen Vorhersage des myonischen magnetischen Moments mittels Simulationen auf dem lokalen Rechnercluster "Wilson" bei.

Die Arbeiten der Mainzer Wissenschaftler sind in das Exzellenzcluster "Precision Physics, Fundamental Interactions and Structure of Matter" (PRISMA) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz integriert, das den wichtigen Schritt in die abschließende Auswahlrunde der Bundesexzellenzinitiative geschafft hat und nun einen ausführlichen Förderantrag stellt.