Neue Erkenntnisse zu vermindertem Schmerzempfinden bei Borderline-Persönlichkeitsstörung

Entstehung von Schmerzempfindungen wird vom Gehirn aktiv unterdrückt

21.06.2006

Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung empfinden Schmerzen weniger stark als gesunde Menschen. Wie neue Forschungsergebnisse zeigen, ist der Grund dafür, dass bei Patientinnen mit Borderline-Störung die Entstehung von Schmerzempfindungen vom Gehirn aktiv unterdrückt wird. Dies stellte ein Forscherteam um den Psychiater Dr. Christian Schmahl vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, den Neurophysiologen Dr. Wolfgang Greffrath von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und Prof. Dr. Erich Seifritz aus der Universitätsklinik für Psychiatrie Bern fest. Ihre Befunde wurden jetzt in der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift Archives of General Psychiatry veröffentlicht. Das Forscherteam hofft, dass die Ergebnisse auf lange Sicht auch chronischen Schmerzpatienten helfen können. Für ihre Untersuchungen zur Schmerzentstehung und Schmerzweiterleitung wurde die Gruppe bereits mit dem Deutschen Förderpreis für Schmerzforschung 2005 ausgezeichnet.

Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) fügen sich typischerweise selbst Verletzungen zu, zum Beispiel schneiden oder verbrennen sie sich oder schlagen mit dem Kopf gegen die Wand, und berichten dabei von reduzierter Schmerzwahrnehmung bis zu völliger Schmerzlosigkeit. Das Forscherteam um Schmahl und Greffrath hatte in einer früheren Arbeit gezeigt, dass jedoch die Schmerzentstehung und die Schmerzweiterleitung bei diesen Patientinnen völlig normal funktioniert und dass die schmerzverarbeitenden Nervenzellen im Gehirn zunächst noch normal auf schmerzhafte Reize reagieren. Die Wissenschaftler hatten daher gemutmaßt, dass somit im Gehirn dieser Patientinnen die Entstehung von Schmerzempfindungen aktiv unterdrückt werden müsse.

Der Aufklärung der zentralnervösen Hintergründe dieses ungewöhnlichen Phänomens sind die Forscher nun einen großen Schritt näher gekommen. Sie untersuchten in Kooperation mit Seifritz und weiteren Arbeitsgruppen aus Deutschland, Italien und der Schweiz, wie sich die zentralnervöse Verarbeitung von Schmerzreizen im Gehirn von Patientinnen mit BPS von der bei gesunden Versuchspersonen unterscheidet. Hierfür wurden sowohl objektiv identische als auch subjektiv gleich schmerzhaft empfundene Hitzereize auf die Handrücken der Versuchspersonen gegeben. Die Schmerzhaftigkeit wurde von den Teilnehmerinnen subjektiv bewertet, während mittels funktioneller Bildgebung in der Kernspintomographie Hirnareale identifiziert wurden, die der Erkennung, Verarbeitung und Bewertung dieser Schmerzreize dienen.

Hierbei zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden untersuchten Gruppen. Objektiv identische Hitzereize von 43 Grad wurden von den Patientinnen subjektiv als weit weniger schmerzhaft empfunden als von den Gesunden. Dementsprechend wurde auch das Gehirn dieser Patientinnen durch solche Reize objektiv weit weniger stark aktiviert als das der Kontrollpersonen. Zur Auslösung einer identischen Schmerzempfindung mussten die Reiztemperaturen bei den Patientinnen um fast drei Grad gegenüber Gesunden erhöht werden. Auch hierbei wurden auffällige Unterschiede gefunden: Der dorsolaterale präfrontale Kortex, ein Hirnareal, das der kognitiven Schmerzbewertung dient, zeigte unmittelbar nach der Hitzereizung bei den Borderline-Patientinnen eine erhöhte Aktivität gegenüber Gesunden. Nachfolgend wurde in der Hirnrinde des vorderen Cingulums und in der Amygdala der Patientinnen die Aktivität deutlich reduziert – diese Hirngebiete sind dafür bekannt, dass sie der affektiven Bewertung von Schmerzreizen dienen. Dies legt den Schluss nahe, dass bei den Patientinnen mit Borderline-Störung eine erhöhte kognitive Kontrolle zu einer niedrigeren affektiven Schmerzbewertung führt und damit zur Schmerzunempfindlichkeit. Man kann vermuten, dass starke Schmerzreize zu einer Beruhigung von Hirnsystemen führen, die für die Verarbeitung von starken Emotionen verantwortlich sind. Selbstverletzungen bei Borderline-Patientinnen können also in gewisser Weise als ein Selbstheilungsversuch angesehen werden. "Somit verfügt unser Gehirn offensichtlich über sehr effektive neuronale Netzwerke zur Unterdrückung von Schmerzen. Wenn wir diesen Mechanismus genauer verstehen, können wir möglicherweise in Zukunft von den Borderline-Patientinnen lernen, wie wir chronischen Schmerzpatienten besser helfen können", so die Autoren.