Lokale Bewegungsdetektoren in der Fruchtfliege nehmen komplexe Muster erzeugt durch Eigenbewegung wahr

Richtungsselektive Nervenzell-Subtypen erfassen komplexe Bewegungsmuster und nicht nur uniforme Bewegungsrichtungen

20.01.2022

Bereits Gehen oder Fahren erfordert ein aufmerksames Auge, damit die Bewegung im Raum problemlos gelingt. Das Auge von Fliegen muss noch mehr leisten, um auch im Flug angemessen zu reagieren. Die Fruchtfliege Drosophila melanogaster benötigt daher eine schnelle Wahrnehmung und Weiterleitung der Informationen vom Auge ans Nervensystem, um ihr Verhalten der jeweiligen Situation anzupassen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) haben nun neue Erkenntnisse darüber gewonnen, wie das Auge von Drosophila konkret Bewegungsinformationen verarbeitet, die durch Eigenbewegung der Fliege im Raum entstehen. Sie entdeckten dabei, dass richtungsselektive Zellen sechs Arten von globalen Bewegungsmustern unterscheiden können. "Bisher dachten wir, das Auge von Drosophila würde die vier kardinalen Richtungen ans Gehirn melden, also Bewegung nach vorn, nach hinten, nach oben und nach unten", erklärt die Leiterin der Studie, Prof. Dr. Marion Silies. "Die Kodierung der Bewegungsmuster, die wir jetzt entdeckt haben, entspricht aber viel besser dem tatsächlichen Verhalten der Fliege."

Jeder T4/T5-Subtyp kann ein Bewegungsmuster erkennen

Das Facettenauge der Fruchtfliege besteht aus 800 Einzelaugen mit hexagonaler Anordnung. Die Einzelaugen wiederum sind mit mehreren Fotorezeptoren ausgestattet, die Lichtreize aus der Umgebung aufnehmen. Von hier werden die Informationen über Nervenzellen zum Zentralhirn geleitet.

Auf dem Weg von den Fotorezeptoren zum Gehirn sind unterschiedliche Nervenzellen involviert, die Bild- und Bewegungsinformationen verarbeiten. Dazu gehören auch die sogenannten T4- und T5-Zellen als lokale Bewegungsdetektoren. T4/T5 sind die ersten richtungsdetektierenden Zellen im Auge, nur wenige Zellschichten hinter den Fotorezeptoren. Sie treten zusammen auf und reagieren auf sich bewegende helle Kontraste im Fall der T4-Zellen und auf dunkle Kontraste im Fall der T5-Zellen. Fehlen diese Zellen, können Fliegen nicht auf Bewegungsreize aus der Umwelt reagieren und sind "bewegungsblind". Bisher wurde angenommen, dass diese T4/T5-Zellen in vier Subtypen auftreten und dass in jedem der 800 Einzelaugen vier Richtungen durch entsprechend vier T4- und vier T5-Zellen für einen Punkt im Raum abgebildet werden. Demnach reagieren alle Zellen eines Subtyps auf uniforme Bewegungen – entweder nach vorn oder nach hinten, beziehungsweise Aufwärts- oder Abwärtsbewegungen – und geben die entsprechende Info weiter.

Nervenzellen repräsentieren das tatsächliche Verhalten der Fliege

"Der Vorgang ist kompliziert und es war lange unklar, wie die Fliegen aus diesen vier Bewegungsrichtungen ein komplexes Muster erstellen", erklärt Dr. Miriam Henning aus der Arbeitsgruppe von Marion Silies. Anhand der Zwei-Photonen-Mikroskopie konnte nun die Aktivität von mehr als 3.500 dieser lokalen Bewegungsdetektoren T4 und T5 gleichzeitig gemessen werden. Es zeigte sich, dass nicht nur vier, sondern sechs Subtypen an dem Vorgang beteiligt sind und dazu beitragen, die Eigenbewegung im Raum korrekt zu erfassen und weiterzuleiten. Die Forschungen wurden in dem Wissenschaftsmagazin Science Advances veröffentlicht. Henning, Erstautorin der Studie, erhielt für ihre Arbeit gerade den Bernstein SmartSteps Award des Bernstein Network Computational Neuroscience, ein Forschungsnetzwerk, das 2004 durch eine Förderinitiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gegründet wurde.

"Die einzelnen Subtypen bilden nicht uniforme Bewegungen ab, wie wir früher gedacht haben, sondern jeder Typ besteht aus einer Gruppe von richtungsselektiven Zellen, die direkt ein komplexes Bewegungsmuster darstellen, welches aus vielen verschiedenen lokalen Richtungen zusammengesetzt ist", sagt Miriam Henning. "Das entspricht viel mehr dem echten Bewegungsmuster der Fliege, wie sie sich tatsächlich im Raum verhält und bewegt." Die Subtypen "arbeiten" dabei alle gleichzeitig, aber sie werden unterschiedlich aktiviert.

Frühere Arbeiten mit Mäusen haben gezeigt, dass die richtungsselektiven Nervenzellen im Mausauge – in diesem Fall bewegungsempfindliche Ganglienzellen – ebenfalls die Eigenbewegung des Tieres als komplexes Muster darstellen. Interessanterweise gibt es hier allerdings tatsächlich nur vier Subtypen und nicht sechs Subtypen wie in der Fliege. Diese Art von Kodierung globaler Bewegung könnte in der Evolution also zweimal unabhängig entstanden sein. Die Autorinnen und Autoren der Studie vermuten, dass die unterschiedliche Anzahl von Subtypen mit den unterschiedlichen Bewegungsmustern zusammenhängt: Fliegende Tiere müssen einen dreidimensionalen Raum abdecken, während laufende Tiere sich meist zweidimensional bewegen.

Paradigmenwechsel in der Neurobiologie

Die neuronale Verarbeitung von Bewegungsinformationen bei Drosophila melanogaster wird bereits seit rund 60 Jahren erforscht, seit 2013 ist bekannt, dass T4- und T5-Zellen die lokalen Bewegungsdetektoren im Auge der Fruchtfliege sind. "Die neuen Ergebnisse sind auf unserem Gebiet, also der Neurobiologie der visuellen Wahrnehmung, ein Paradigmenwechsel", ordnet Marion Silies die Befunde ein. "Es erscheint sinnvoller, dass direkt ein komplexes Bewegungsmuster erfasst wird anstatt vier uniforme Richtungen, welche später im Gehirn in Bewegungsmuster umkodiert werden müssen. Zudem passen die sechs Subtypen der T4/T5-Zellen besser zu der sechseckigen Struktur des Fliegenauges." Aber noch immer sind viele Fragen ungeklärt: Nicht bekannt ist zum Beispiel, wie die Subtypen richtungsselektiver Zellen unterschiedliches Verhalten abbilden, zum Beispiel in Arten mit unterschiedlichem Lauf- oder Flugverhalten, und wie sie selbst dieses Verhalten steuern. "Das würden wir gerne in Zukunft erforschen", so Silies.