Forschungsarbeiten zur Anpassungsfähigkeit des visuellen Systems von Insekten werden mit EU-Mitteln gefördert
24.03.2022
Durch die schnelle Verarbeitung von visuellen Informationen können wir uns relativ problemlos in der Welt bewegen. Auch andere Lebewesen oder moderne Geräte, die auf computergestütztem Sehen beruhen, müssen die Informationen aus ihrer Umgebung schnell und präzise bearbeiten, selbst wenn sich die externen Bedingungen abrupt verändern. Wie unterschiedliche visuelle Systeme auf spezifische Umgebungsbedingungen reagieren und sich dem jeweils eigenen Verhalten anpassen, untersucht die Neurobiologin Prof. Dr. Marion Silies von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) an der Fruchtfliege Drosophila melanogaster und anderen Insekten. Für das Projekt "AdaptiveVision" erhält sie nun eine Förderung des Europäischen Forschungsrats, kurz ERC für European Research Council, in Höhe von zwei Millionen Euro. Der bewilligte ERC Consolidator Grant gehört zu den am höchsten dotierten Fördermaßnahmen der EU, die an Spitzenforscherinnen und Spitzenforscher vergeben werden. Marion Silies ist seit 2019 Professorin für Neurobiologie an der JGU und hatte zuvor bereits einen ERC Starting Grant erhalten.
Visuelle Verarbeitungsstrategien müssen schnell auf Veränderungen reagieren
Damit wir uns in der Umgebung zurechtfinden, verlassen wir uns sehr stark auf unsere Augen. Sie funktionieren zuverlässig den ganzen Tag, nicht nur in der Abenddämmerung oder dem Morgengrauen, sondern auch unter Lichtverhältnissen, die sich in kürzester Zeit verändern. Unser Sehvermögen muss sich auf viele unterschiedliche Situationen einstellen, wenn wir uns beispielsweise selbst von einem hell erleuchteten Ort in den Schatten bewegen oder auch nur unseren Blick in den Schatten richten. Während Menschen und Tiere recht problemlos auf Veränderungen reagieren, sind schnelle Beleuchtungsänderungen für kamerabasierte Navigationssysteme eine Herausforderung. Daher zielt AdaptiveVision darauf ab, die zugrunde liegenden Mechanismen in Tiermodellen zu verstehen.
Unterschiedliche Lebensräume und Verhalten der Tiere beeinflusst visuelle Eindrücke
Ein Tier, das sich bewegt, erfährt durch seine Eigenbewegung schnelle Veränderungen in der wahrgenommenen Helligkeit. Es erzeugt zudem Bewegungsmuster auf dem Auge, weil sich die Welt in Relation zum Beobachter bewegt. Manche Herausforderungen betreffen verschiedene visuelle Systeme gleichermaßen, andere sind recht spezifisch. Tiere bewohnen beispielsweise unterschiedliche Lebensräume und sind dementsprechend mit unterschiedlichen visuellen Umgebungen konfrontiert. Außerdem verhalten sie sich unterschiedlich und dieses Verhalten wiederum führt zu anderen visuellen Eindrücken. Bei einem fliegenden Tier steigt zum Beispiel die Komplexität der Daten, die zu verarbeiten sind, im Vergleich zu laufenden Tieren weiter an.
"Vor diesem Hintergrund interessiert es uns, wie die visuelle Verarbeitung und die Anpassung an verschiedene Bedingungen genau funktioniert. Zunächst wollen wir die allgemeinen Funktionsprinzipien des visuellen Systems verstehen", sagt Marion Silies. "Dann wollen wir herausarbeiten, wie verschiedene visuelle Systeme an bestimmte Umwelt- und Verhaltensbedingungen angepasst sind." Dazu werden Silies und ihr Team zwei wesentliche Rechenoperationen untersuchen, die Augen und Gehirn vollbringen: das Kontrastsehen in einer sich dynamisch verändernden Umgebung und die Kodierung der Bewegungsmuster, die durch Eigenbewegung entstehen.
Um diese rechnerische Verarbeitung von visuellen Informationen zu erforschen, wird zunächst mit der Fruchtfliege Drosophila melanogaster als Modellorganismus gearbeitet. Ein vergleichender Ansatz soll dann die Frage aufgreifen, wie sich unterschiedliche visuelle Systeme an individuelle Bedingungen anpassen, die durch die Umgebung und durch das Verhalten der Tiere entstehen. Dazu werden verschiedene Drosophila-Arten als genetische Modelle entwickelt oder auch Strategien zur Untersuchung molekularer Mechanismen und neuronaler Schaltkreise auf andere Insekten wie zum Beispiel Schwebfliegen angewendet. Die Entwicklung genetischer Werkzeuge zu diesem Zweck ist eine besondere Expertise des Teams von Marion Silies.
ERC Consolidator Grant "AdaptiveVision" schließt direkt an frühere ERC-Förderung an
Marion Silies hat Biologie studiert und anschießend an der Universität Münster über die Entwicklung des Nervensystems promoviert. Als Postdoc arbeitete sie im Labor von Prof. Dr. Tom Clandinin an der Stanford University, wo sie Schaltkreise zur Bewegungserkennung kartierte und charakterisierte und mit der Entwicklung von genetischen Werkzeugen begonnen hat. Seit Anfang 2015 war Marion Silies dann als Gruppenleiterin am European Neuroscience Institute in Göttingen tätig und ist nun seit Jahresbeginn 2019 Professorin für Neurobiologie und Leiterin des "Neural Circuits Lab" an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Die Wissenschaftlerin ist außerdem Fellow des Gutenberg Forschungskollegs an der JGU. Für ihre Arbeiten hatte Silies bereits einen ERC Starting Grant zum Thema "Mikroschaltkreise im visuellen System der Fliege" erhalten. Daran schließt die neue Förderung mit dem ERC Consolidator Grant jetzt unmittelbar an.
Der ERC Consolidator Grant ist eine der höchstdotierten Fördermaßnahmen der EU für einzelne Wissenschaftler. Der Europäische Forschungsrat fördert damit herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 7 bis 12 Jahre nach der Promotion. Zusätzlich zur wissenschaftlichen Exzellenz müssen die Antragsteller den bahnbrechenden Ansatz ihres Projekts und seine Machbarkeit nachweisen, um die Förderung zu erhalten. Die Förderdauer beträgt fünf Jahre.