Lebenswelt der kurländischen Juden in der Zwischenkriegszeit wird erforscht

Neues Forschungsprojekt untersucht die Situation deutschakkulturierter Juden in Lettland zwischen 1919 und 1939 und ihre Beziehungen zur deutschen Bevölkerungsgruppe

01.03.2018

Die Gründung der Republik Lettland im November 1918 brachte für die jüdische Bevölkerung weitreichende Veränderungen mit sich: Jüdische Bürger waren fortan gleichberechtigt und hatten die Möglichkeit, sich politisch zu engagieren und kulturelle Einrichtungen selbst zu gründen und zu verwalten. Eine kleine Gruppe der jüdischen Bevölkerung war deutschakkulturiert und bezeichnete sich selbst gelegentlich als "Deutsche jüdischen Glaubens". Über die Lebenswelt dieser Bevölkerungsgruppe in der Zwischenkriegszeit, die von einer kulturellen Blüte und toleranten Minderheitengesetzgebung gekennzeichnet war, ist kaum etwas bekannt. Ein neues Forschungsprojekt an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) nimmt sich des Themas an und untersucht die Lebenswelt der deutschakkulturierten Juden und die kulturellen Wechselbeziehungen mit Deutschen in der Zwischenkriegszeit. Das Projekt "Juden und Deutsche in Lettland 1919-1939: Akkulturationswege, Identität, Rezeption" wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters, gefördert. Die Unterstützung erfolgt im Programm "Deutsch-jüdische Lebenswelten im östlichen Europa" und beläuft sich in den kommenden vier Jahren auf 80.000 Euro.

Aus historischen Gründen war die jüdische Gesellschaft in Lettland 1918 in religiöser und kultureller Hinsicht uneinheitlich: Die größte Gruppe bildeten Jiddisch sprechende Juden, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Riga und Kurland migriert waren. Eine kleinere Gruppe gebildeter Juden war russischakkulturiert. Besonders charakteristisch für die Stadt Riga und die Region Kurland im östlichen Teil Lettlands war jedoch die Gruppe der sogenannten kurländischen Juden, die seit dem 18. Jahrhundert als "Schutzjuden" hier lebten und bereits Anfang des 19. Jahrhunderts deutschakkulturiert waren. Sie alle genossen in dem jungen Nationalstaat Kulturautonomie, ebenso wie die Minderheiten der Russen und Deutschen in Lettland.

Vergleich zwischen der Situation russisch- und deutschakkulturierter Juden angestrebt

Über die Situation russsischakkulturierter Juden ist vor allem durch Vorarbeiten von Dr. Svetlana Bogojavlenska, Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte der JGU, bereits einiges bekannt. "Wir wissen, dass gerade das Ende des Russischen Kaiserreichs dieser Gruppe die Möglichkeit eröffnete, sich kulturell als Russen zu fühlen", so die Historikerin. Etwa sechs Prozent aller Juden in Lettland benutzten im Alltag Russisch als Muttersprache. Aufgrund der gemeinsamen Sprache und Bildung entstanden enge Beziehungen zwischen der russischen und jüdischen Intelligenz: Russische Zeitungen wurden von ethnisch jüdischen Journalisten herausgegeben, jüdische Juristen traten der russischen juristischen Vereinigung bei und jüdische Familien schickten ihre Kinder in russische Mittelschulen.

Über die zahlenmäßig stärker vertretenen deutschakkulturierten Juden, über ihre Lebenswelt, die Akkulturationswege, Identität und ihre Akzeptanz durch die Deutschen in Lettland existieren bislang keine Forschungen. Von den 1930 in Lettland erfassten Juden hatten etwa 10 Prozent Deutsch als Familiensprache angegeben. In Riga haben 15 Prozent der Juden im Alltag Deutsch gesprochen, in den Städten Kurlands waren es bis zu 21 Prozent. "Wie diese Zahlen zeigen, leisteten die Juden somit einen Beitrag zur Verbreitung der deutschen Sprache in Lettland. Dies wird auch daran deutlich, dass die jüdische Schulabteilung sowohl jiddisch- und hebräischsprachige Schulen betrieb als auch russisch- und deutschsprachige", merkt Svetlana Bogojavlenska an.

"Trotz dieser hochinteressanten sprachlichen und kulturellen Konstellation im Lettland der Zwischenkriegszeit wissen wir nicht, wie die deutsche Kultur konkret auf das jüdische Kulturleben der Zwischenkriegszeit einwirkte und sich durchzusetzen vermochte", erklärt Projektleiter Prof. Dr. Jan Kusber, Professor für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der JGU. Insbesondere ist die Frage nach den Wechselbeziehungen und der Wahrnehmung der deutschakkulturierten Juden durch die deutsche Bevölkerung noch nicht erforscht worden. Die Mainzer Historiker nehmen an, dass die meisten Deutschen den Juden ablehnend gegenüberstanden, auch wenn sie ihre Sprache sprachen und ihre Kultur bevorzugten – dies im Gegensatz zur Situation der russischakkulturierten Juden, die von der Mehrheit der gebildeten russischen Gesellschaft in Lettland akzeptiert wurden und sich in die russische Kultur einbringen konnten.