Simulationen zum besseren Verständnis von fester und flüssiger Materie
23.10.2007
Mit dem Fortschritt der Computertechnik und dank immer leistungsfähigeren Superrechnern ist in der Physik ein innovativer Forschungszweig entstanden: die Computersimulation. Prof. Dr. Kurt Binder ist seit 40 Jahren als Pionier auf diesem Forschungsgebiet tätig und hat zu seiner Entwicklung maßgeblich beigetragen. Als erster deutscher Physiker erhielt Binder im Juli 2007 die Boltzmann-Medaille – die weltweit höchste Auszeichnung auf dem Gebiet der Statistischen Physik. Mit dem Ziel der Förderung individueller Exzellenz hat die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) Prof. Dr. Kurt Binder zum Fellow des Gutenberg Forschungskollegs ernannt.
Als Kurt Binder vor rund 40 Jahren mit der Berechnung von Eigenschaften magnetischer Systeme begann, steckte die Computertechnik noch in den Kinderschuhen. Mittlerweile bilden Simulationen auf modernen Höchstleistungsrechnern oft das entscheidende Bindeglied zwischen analytischer Theorie und Experiment – und nicht nur das: Die Computersimulation selbst kann ein Experiment darstellen und dabei in Räume vordringen, die realen Versuchen verschlossen sind, angefangen von der Untersuchung kleinster Quantenteilchen bis hin zur Simulation gewaltiger Sternexplosionen.
Untersucht wird kondensierte Materie, also Flüssigkeiten oder Festkörper, die sich aufgrund der Wechselwirkung ihrer Teilchen von Gasen grundsätzlich unterscheiden. Kondensierte Materie ist zum Beispiel auch das Wasser, das sich am Morgen auf der Windschutzscheibe des Autos niedergeschlagen hat – womit gleich ein interessantes Problem für die Computersimulation angesprochen wird, nämlich der Übergang von der Dampfphase zur Flüssigkeit. "In diesem Beispiel erleichtert die Autoscheibe die Bildung von Flüssigkeit aus der Gasphase. Wie die Kondensation an Substraten aber genau funktioniert, ist noch nicht richtig verstanden", erläutert Binder.
Ein anderes Gebiet, das in Binders Arbeitsgruppe gerade intensiv erforscht wird, ist die Löslichkeit von Materialien in Lösungsmitteln. Die Untersuchung der molekularen Grundlagen soll die Frage beantworten, was genau die Löslichkeit kontrolliert und damit auch erklären, weshalb sich etwa Wasser und Öl schlecht mischen, Wasser und Alkohol dagegen gut, oder wie es zur Sättigung von Salz in Flüssigkeiten kommt. Die Experimente finden allerdings nicht im Labor, sondern im Computer statt. "Materie ist aus Atomen und Molekülen aufgebaut, die miteinander wechselwirken. Daraus erklären sich die makroskopischen Eigenschaften – und dies können wir am Computer nachbilden", so Binder.
Die Methodik für diese Nachbildungen hat Binder maßgeblich mitentwickelt. Er selbst verwendet hauptsächlich die Monte-Carlo-Methode, ein Verfahren, das aus dem Manhatten-Projekt der USA zum Bau einer Atombombe hervorging, ursprünglich aber von einem französischen Mathematiker zur Berechnung der Kreiszahl pi im 19. Jahrhundert entdeckt worden war. Bei dieser Methode erzeugt der Computer Zufallszahlen, bis zu 1.000 Milliarden in einer Sekunde, die er dann dafür verwendet, zufällige Zusammenstöße von Teilchen zu simulieren. "Der Computer würfelt und bildet die ungeordnete Bewegung der Atome und Moleküle nach", so Binder. Weil sich in einem Kubikzentimeter Flüssigkeit oder Feststoff 1022 Atome befinden, ist es nicht einfach, das Verhalten vorherzusagen oder vorauszusehen. Und es wäre vor 40 Jahren noch völlig undenkbar gewesen. "Als ich mit dieser Arbeit begonnen habe, waren die Großrechneranlagen der Universitäten so leistungsfähig wie ein Taschenrechner heute", erinnert sich Binder. Es war eine Pioniertätigkeit, die sich mit zunehmender Leistungsfähigkeit der Computer entwickelt hat.
Die Arbeitsgruppe Binder mit 40 Mitarbeitern ist einer der größten Nutzer der Parallelrechner der JGU, betreibt einen eigenen Parallelrechner und erhält substanzielle Rechenzeit am Jülicher Supercomputer. Mit dem geplanten Zentrum für Rechnergestützte Forschungsmethoden in den Naturwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz wird die Arbeitsgruppe weitere Unterstützung erfahren. "Wir können heute ein physikalisches System in wesentlich größerem Detail untersuchen, als es durch Experimente möglich ist", so Binder. "Das hilft uns zu verstehen, warum entsprechende Systemeigenschaften auftauchen." Dadurch lässt sich ein ansonsten nicht zugänglicher Einblick in physikalische Zusammenhänge gewinnen. Die Konzepte, die die Grundlage dieser Arbeiten bilden, werden heute in vielen anderen Wissenschaftszweigen wie der Materialwissenschaft und der Biophysik, aber auch in der Versicherungsstatistik oder den Neurowissenschaften angewandt.