KLH-Atmungsprotein unter Einsatz von Sequenzanalyse, 3-D-Elektronenmikroskopie und Röntgenkristallographie vollständig entschlüsselt

Strukturanalyse des als Immunstimulator bekannten Hämocyanins "KLH" macht 68.000 Aminosäuren und ungewöhnlichen Baustein sichtbar

23.06.2010

Vor der Küste Kaliforniens lebt die Schlüssellochschnecke Megathura crenulata. Ihren Namen hat die Meeresschnecke von einer großen Atemöffnung im Zentrum der Rückenschale, ihre Besonderheit verdankt sie jedoch einem speziellen Atmungsprotein, für das sich Biologen, Mediziner und Pharmazeuten interessieren. Dieses Sauerstofftransportprotein der Schnecke gehört nämlich zu den größten Proteinen überhaupt. Beim Menschen ruft es starke Immunreaktionen hervor. Deshalb wird es von Immunologen und Klinikern als Immunstimulator eingesetzt, etwa bei der Immuntherapie von Tumoren. Zwei Abteilungen am Fachbereich Biologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) haben die molekulare Struktur dieses Proteins, das die Bezeichnung "Keyhole Limpet Hämocyanin" (KLH) trägt, nun vollständig entschlüsselt. Zum Einsatz kamen dabei Sequenzanalyse, 3-D-Elektronenmikroskopie und Röntgenkristallographie. Die beiden letztgenannten Methoden können bei Proteinen in Mainz als einzigem Standort in Rheinland-Pfalz durchgeführt werden.

Hämocyanine sind blaue Blutproteine, die bei Schnecken, Tintenfischen, Spinnen und Krebsen den Transport von Sauerstoff im Körper bewältigen. Bei diesen blauen Blutfarbstoffen bindet Kupfer den Sauerstoff anstelle von Eisen wie beim Hämoglobin in unseren roten Blutkörperchen. Im Elektronenmikroskop erscheint das KLH-Molekül als Hohlzylinder mit einem Kragen an beiden Enden. Es hat einen Durchmesser von 35 Millionstel Millimeter. Das ist zwar unglaublich winzig, für ein Protein aber ganz außergewöhnlich groß. "Wir hatten am Institut für Zoologie die komplette Aminosäuresequenz des KLH ermittelt und herausgefunden, dass es aus acht verschiedenen Proteinbausteinen besteht, die sich in dem Riesenmolekül zwanzigmal wiederholen. Nun interessierte uns seine genaue dreidimensionale Struktur", erläutert Prof. Dr. Jürgen Markl. Erst an der räumlichen Struktur lässt sich erkennen, wie die einzelnen Bausteine des Riesenproteins zueinander stehen, wie der Mechanismus zur Aufnahme und Abgabe von Sauerstoff genau funktioniert und wie seine immunologischen Eigenschaften zustande kommen. Von den acht Bausteinen des KLH sind sich sieben recht ähnlich. Sie bestehen jeweils aus etwa 420 Aminosäuren und ihre molekulare Struktur war bereits gut bekannt. Mit einer innovativen Methode, der 3-D-Elektronenmikroskopie, erstellte die Arbeitsgruppe um Markl aus Tausenden elektronenmikroskopischer Bilder ein Computermodell des KLH. Dieses war detailliert genug, um wie in einem dreidimensionalen Puzzle die sieben bekannten Bausteine des KLH einpassen zu können, jeden Baustein zwanzigmal. Damit war das gesamte KLH-Molekül aufgeklärt, außer dem Kragen, der den Zylinder auf beiden Seiten abschließt. Jeder Kragen wird aus zehn Kopien des achten Bausteins gebildet.

Der achte Baustein besitzt 100 Aminosäuren mehr, also insgesamt 520, und war in seiner Struktur noch ein völliges Rätsel, das die Arbeitsgruppe um Markl allein nicht lösen konnte. Hier half Prof. Elmar Jaenicke vom Institut für Molekulare Biophysik der JGU, ein Spezialist für Röntgenstrukturanalyse. "Nur die Röntgenstrukturanalyse konnte in diesem Fall eine atomare Auflösung liefern", erläutert Jaenicke. Diese Technik in Kombination mit der 3-D-Elektronenmikroskopie hatte auch zur Aufklärung der Ribosomen-Struktur geführt, wofür ihre Entdecker im Jahr 2009 den Chemie-Nobelpreis erhielten.

Ein Protein ist nicht ohne Weiteres unter der Röntgenapparatur zu sehen, sondern muss zuerst in sehr langwieriger Laborarbeit zu einem Kristall gezogen werden, also in eine feste Gitterstruktur, die ein Proteinmolekül natürlicherweise nie einnehmen würde. "Ein so großes Protein wie das gesamte KLH in einen Kristall einzubauen, ist nahezu unmöglich. Auch bei den viel kleineren Bausteinen des KLH ist es so, als ob man einen Ozeantanker in eine Parklücke hineinmanövrieren wollte. Es dauert wochenlang", beschreibt Jaenicke den Prozess, bei dem die Proteine in einer Salzlösung ganz allmählich ausgefällt werden. "Die richtigen Bedingungen beim Kragenbaustein herauszufinden, hat Monate gebraucht." Zuvor musste der Kragenbaustein in großen Mengen von den anderen sieben Bausteinen abgetrennt werden. Das war biochemische Schwerarbeit.

Nach der erfolgreichen Kristallisation wurde die räumliche Struktur des KLH-Kragenbausteins mit Röntgenstrahlen aufgeklärt. Zum Vorschein kam ein Gebilde, das in seinem Vorderteil den übrigen sieben Bausteinen gleicht, aber am Hinterende ein weiteres Teil besitzt, in dem die zusätzlichen 100 Aminosäuren stecken. "Die Struktur dieses Zusatzteils stimmt auf erstaunliche Weise mit Proteinen aus der Cupredoxin-Familie überein. Allerdings fehlt deren übliches Kupferatom im Zentrum", erläutert Jaenicke. Eine Recherche in den Protein-Datenbanken ergab, dass auch im Hämocyanin von Gliederfüßern wie Krebsen und Spinnen ein Bereich Cupredoxin-ähnlich ist, was bisher übersehen worden war.

"Die Hämocyanine von Gliederfüßern und Weichtieren sind ganz unterschiedlich aufgebaut, sodass sie aus zwei getrennten Wurzeln stammen dürften." Jaenicke geht nun davon aus, dass die Evolution beider Hämocyanin-Familien dennoch ähnlich verlief. "In beiden Fällen waren die Cupredoxin-ähnlichen Domänen ursprünglich wahrscheinlich wichtig für den Erhalt des Kupferzentrums. Vielleicht haben sie früher dazu beigetragen, die Kupferionen in das Hämocyanin einzubauen und so die Sauerstoffversorgung zu verbessern." Heute allerdings haben die Cupredoxin-ähnlichen Domänen offensichtlich vor allem die Aufgabe, die Struktur der riesigen Hämocyanin-Moleküle zu stabilisieren. Nach Einpassen des Kragenbausteins in das KLH-Modell wurde nämlich deutlich, dass der Kragen nur über den Cupredoxin-ähnlichen Zusatz zusammenhält.

Die Kombination aus Sequenzanalyse, 3-D-Elektronenmikroskopie und Röntgenstrukturanalyse und die enge Zusammenarbeit der beiden komplementär aufgestellten strukturbiologischen Abteilungen hat es den Mainzer Forschern ermöglicht, das riesige, aus rund einer Million Atomen beziehungsweise 68.000 Aminosäuren bestehende KLH bis in die molekularen Details aufzuklären. Das nächste gemeinsame Ziel ist nun, auf der Basis dieses Strukturmodells den Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Bausteinen bei der kooperativen Sauerstoffbindung genau zu beschreiben. Bis heute ist beispielsweise unklar, woher die verschiedenen aktiven Zentren "erfahren", dass an einer Stelle ihres Moleküls Sauerstoff gebunden wurde. Alle reagieren darauf und binden dann ihrerseits die Sauerstoffmoleküle besser.

Förderungen erfolgten durch das DFG-Graduiertenkolleg GK1043 "Immunotherapie" sowie durch das Forschungszentrum für Immuntherapie (FZI) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.