Physiker an der Uni Mainz warten gespannt auf die ersten Teilchenstrahlen im Large Hadron Collider und deren Signale im ATLAS-Experiment
05.09.2008
Am 10. September 2008 wird am europäischen Forschungszentrum CERN in Genf der Large Hadron Collider (LHC) in Betrieb genommen. Der LHC ist der weltweit leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger, von dem die Wissenschaft neue und vielleicht auch völlig überraschende Erkenntnisse über den Aufbau der Materie und die Entstehung des Universums erwartet. Teilchenphysiker der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sind seit über zehn Jahren aktiv an dem Projekt beteiligt und werden die Inbetriebnahme vor Ort in Genf sowie am Institut für Physik in Mainz mitverfolgen. "Wir erwarten jetzt natürlich mit Spannung den Zeitpunkt, wenn der erste Protonenstrahl eingeschossen wird und den Beschleunigerring auf der vollen Länge von 27 Kilometern durchläuft und dabei auch das ATLAS-Experiment passieren wird", sagt Prof. Dr. Stefan Tapprogge von der Arbeitsgruppe Experimentelle Teilchen- und Astroteilchenphysik (ETAP) der Uni Mainz.
Am LHC und seinen Experimenten haben 10.000 Wissenschaftler und Ingenieure aus 85 Ländern über 10 Jahre lang gearbeitet. Der Tunnel verläuft in einer Tiefe von 50 bis 150 Metern zwischen dem französischen Jura und dem Genfer See in der Schweiz. Die Protonenpakete werden in dem 27 Kilometer langen Ring auf nahezu Lichtgeschwindigkeit beschleunigt und dabei bisher nicht erreichte Energien erlangen. Um die Protonen auf der Kreisbahn zu halten, wird ein Magnetfeld benötigt, das 100.000-mal so stark ist wie das unserer Erde. Im Beschleuniger wird dieses von über 1200 supraleitenden Dipolmagneten erzeugt. Diese Magnete sind auf -271 Grad Celsius abgekühlt worden, tiefer als die mittlere Temperatur im Universum, die bei rund -270 Grad Celsius liegt. Ausführliche Tests dieser Magnete und der vielen andere Bestandteile des Beschleunigers sind erfolgreich verlaufen. Auch die Abstimmung mit den Vorbeschleunigern ist bereits erfolgt, sodass dem Einschuss des Strahls nichts mehr im Wege steht.
Die Mainzer Physiker sind am ATLAS-Experiment beteiligt, mit dessen Hilfe die bei den Zusammenstößen von Protonen, also Wasserstoffkernen, entstehenden Teilchen festgestellt und präzise vermessen werden. Das ATLAS-Experiment ist eines von vier großen Nachweisgeräten am LHC und wurde in einer internationalen Kollaboration bestehend aus über 2200 Physikern aus 37 Ländern aufgebaut. "Teilchenkollisionen wird es am Mittwoch aber noch nicht geben, sondern erst wenige Wochen später", so Tapprogge. Jetzt wird es zunächst darum gehen, den Protonenstrahl auf seinen langen Weg durch den gesamten LHC zu schicken. Bereits für diese Inbetriebnahme werden die Nachweisgeräte in Aktion treten und erste Signale der Protonstrahlen aufzeichnen.
Hierbei wird das sogenannte Trigger-System von ATLAS zum Einsatz kommen. Seine Aufgabe ist es, interessante Ereignisse zu erkennen. Die Mainzer Physiker haben zu diesem System aus komplexer Elektronik und Computern einen wesentlichen Beitrag geleistet. Seit Mitte letzten Jahres ist diese Komponente von mehreren Mitgliedern der Mainzer Gruppe vor Ort kontinuierlich auf Herz und Nieren getestet worden; unter anderem konnten hierbei auch Signale von Myonen aus der kosmischen Höhenstrahlung nachgewiesen werden. Der "Trigger" ist somit bereit für den Ernstfall: die Selektion von Ereignissen im Strahlbetrieb.
Die Mainzer Wissenschaftler hoffen, dass es noch vor der offiziellen Einweihung des LHC am 21. Oktober 2008 zu ersten Kollisionen kommt. Noch dieses Jahr sollen Energien erreicht werden, die schon fünfmal höher sind als bisher in anderen Beschleunigern. Für das ATLAS-Experiment beginnt dann der spannende Teil einer auf viele Jahre angelegten Messkampagne, in der die Mainzer Gruppe sich überwiegend der Analyse und Interpretation der aufgezeichneten Daten widmen wird. "Das Standard-Modell der Teilchenphysik ist in der Lage, viele bekannte Phänomene im Mikrokosmos zu beschreiben, wirft aber auch mehrere offene Fragen auf", erklärt Tapprogge. "Diese Lücken wollen wir mit Hilfe des ATLAS-Experiments schließen und hoffen darüber hinaus auf Ergebnisse, die über unser heutiges Wissen weit hinausgehen." Beispielsweise könnte das Rätsel, woher die Teilchen ihre Masse haben, mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens gelöst werden.