Geisterteilchen sind Beweis für sekundären Fusionsprozess, der unsere Sonne antreibt
25.11.2020
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Borexino-Kollaboration haben den ersten experimentellen Beweis für das Auftreten des sogenannten CNO-Zyklus in der Sonne erbracht: Sie konnten charakteristische Neutrinos, die bei diesem Fusionsprozess entstehen, direkt beobachten. Dies ist ein wichtiger Meilenstein hin zu einem vollständigen Verständnis der Fusionsprozesse in der Sonne. Mehr noch: Während der CNO-Zyklus in der Sonne eine untergeordnete Rolle spielt, ist er in Sternen, die wesentlich schwerer und damit heißer sind als die Sonne, vermutlich der vorherrschende Weg, um Energie zu gewinnen. Die Ergebnisse der Borexino-Kollaboration sind in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Nature veröffentlicht.
Wie erzeugt die Sonne Energie? Als gigantischer Fusionsreaktor wandelt sie kontinuierlich Wasserstoff in Helium um – diesen Prozess bezeichnen Forscher auch als Wasserstoffbrennen. Dabei nutzt die Sonne im Wesentlichen zwei Wege: Die Proton-Proton-Reaktion (pp-Reaktion) startet mir der direkten Verschmelzung zweier Wasserstoffkerne und über die Zwischenstufe Deuterium entsteht schließlich Helium. An der zweiten Reaktionskette sind hingegen die schwereren Elemente Kohlenstoff (C), Stickstoff (N) und Sauerstoff (O) beteiligt. Sie wird daher als CNO-Zyklus oder auch Bethe-Weizsäcker-Zyklus bezeichnet. Während in leichten Sternen wie der Sonne die pp-Reaktion dominiert, ist der CNO-Zyklus in schweren und heißeren Sternen der Hauptprozess zur Energiegewinnung.
Bei allen Fusionsprozessen im Innern der Sonne entstehen neben Helium und gewaltigen Mengen Energie, die die Sterne leuchten lässt, unter anderem auch unzählige Neutrinos. Milliardenfach erreichen sie die Erde und durchdringen sie normalerweise ungehindert. "Mit dem riesigen Detektor des Borexino-Experiments 1.400 Meter unter Erde können wir diese Neutrinos aber aufspüren", sagt Prof. Dr. Michael Wurm, Neutrinophysiker am Exzellenzcluster PRISMA+ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und Mitglied der Borexino-Kollaboration. "Dann erlauben sie einen unverhüllten Blick auf die Vorgänge im Sonneninneren."
Während die Borexino-Kollaboration in den letzten Jahren Neutrinos aus mehreren Reaktionen entlang der pp-Kette nachweisen konnte, hat sie in der aktuellen Arbeit explizit Neutrinos aus dem CNO-Zyklus identifiziert, die im Vergleich deutlich weniger zahlreich sind. "Obwohl wir aufgrund von Modellrechnungen erwartet haben, dass der CNO-Zyklus auch in der Sonne abläuft, ist er doch bisher nie direkt beobachtet worden. Nur ein charakteristisches Neutrinosignal kann den endgültigen Beweis für sein Auftreten liefern – und dies haben wir nun zweifelsfrei nachgewiesen."
Mehr noch: Das Forschungsteam konnte auch den Gesamtfluss der CNO-Neutrinos, die auf der Erde ankommen, abschätzen. Mit etwa 700 Millionen von ihnen, die pro Sekunde durch einen Quadratzentimeter fliegen, beträgt ihr Anteil etwas ein Hundertstel der Gesamtzahl der solaren Neutrinos. "Das passt wunderbar zu den theoretischen Erwartungen, nach denen der CNO-Zyklus in der Sonne für etwa ein Prozent der gewonnenen Energie verantwortlich ist", sagt Dr. Daniele Guffanti, Postdoc in der Gruppe von Michael Wurm und ebenfalls Mitglied der Borexino-Kollaboration.
Die beiden Mainzer Neutrinophysiker werten die neuen Ergebnisse als wichtigen Meilenstein hin zu einem vollständigen Verständnis der Fusionsprozesse, die unsere Sonne, aber auch schwere Sterne antreiben und im Universum leuchten lassen. Sie ebnen darüber hinaus den Weg für ein besseres Verständnis der elementaren Zusammensetzung des Sonnenkerns insbesondere im Hinblick darauf, wie häufig neben Wasserstoff und Helium schwerere Elemente wie eben Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff im Sonnenplasma zu finden sind – Forscher sprechen hier von der "Metallizität". Auch hierfür sind Neutrinos die einzigen direkten Botschafter.
Über den Borexino-Detektor
Der Borexino-Detektor sammelt seit 2007 Daten zu den solaren Neutrinos. Er befindet sich im größten unterirdischen Labor der Welt, den Laboratori Nazionali del Gran Sasso in Italien. Das Herzstück des Borexino-Detektors ist ein extrem dünnwandiger, kugelförmiger Nylonballon, der 280 Tonnen einer speziellen Szintillatorflüssigkeit enthält. Nur einige hundert Mal am Tag kommt es vor, dass ein Neutrino mit dem Detektormaterial wechselwirkt. Dann entstehen winzige Lichtblitze, die von rund 2.000 extrem empfindlichen Sensoren erfasst werden.
Um sicher zu gehen, dass die detektierten Signale tatsächlich von Neutrinos stammen, müssen die Wissenschaftler andere mögliche Signalquellen ausschalten oder bei der Datenanalyse herausfiltern – vor allem die natürliche Radioaktivität und die Störung durch kosmische Strahlung, hier vor allem Myonen. Denn obwohl sich der Tank abgeschirmt unter einer 1.400 Meter dicken Gesteinsschicht im Gran-Sasso-Bergmassiv in der Nähe von Rom befindet, können einige Myonen ihn dennoch erreichen. Durch radioaktive Zerfälle können sie Signale hervorrufen, die sich auf den ersten Blick nicht von einem echten Neutrinosignal unterscheiden lassen. Die Spezialität der Mainzer Gruppe ist es, ausgeklügelte Analysetechniken zu entwickeln, die helfen, solche Untergrund-Ereignisse zu unterdrücken, um so die seltenen Neutrinosignale sicher identifizieren zu können.