Signale aus dem Erdinneren: Borexino-Experiment veröffentlicht neue Daten zu Geoneutrinos

Exklusiver Einblick in Prozesse und Verhältnisse im Erdinneren

30.01.2020

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Borexino-Kollaboration, an der auch Forscher des Exzellenzclusters PRISMA+ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) beteiligt sind, haben neue Ergebnisse zur Messung von Neutrinos vorgelegt, die aus dem Innern der Erde stammen – sogenannte Geoneutrinos. Die schwer fassbaren "Geisterteilchen" interagieren nur äußerst selten mit Materie, was ihren Nachweis schwierig macht. In der neu vorgestellten Analyse konnten die Forscher ihren Datensatz mit 53 in Borexino gemessenen Ereignissen fast verdoppeln. Die Ergebnisse geben einen exklusiven Einblick in Prozesse und Verhältnisse im Erdinneren, die bis heute immer noch rätselhaft sind.

Unser Planet leuchtet, auch wenn es mit dem bloßen Auge nicht zu sehen ist. Grund dafür sind die Geoneutrinos, die in radioaktiven Zerfallsprozessen im Innern der Erde entstehen. Jede Sekunde durchdringt etwa eine Million davon jeden Quadratzentimeter der Erdoberfläche. Der Borexino-Detektor im größten Untergrundlabor der Welt, dem Laboratori Nazionali del Gran Sasso in Italien, ist eines der wenigen Neutrinoexperimente weltweit, die in der Lage sind, die spukhaften Teilchen zu erfassen.

Borexino sammelt seit mehr als zehn Jahren Daten über Neutrinos

Bereits seit 2007 sammeln Forscher mit Borexino Daten über Neutrinos. Bis 2019 konnten sie doppelt so viele Ereignisse wie zum Zeitpunkt der letzten Auswertung im Jahr 2015 registrieren und damit die Unsicherheit der Messungen von 27 auf 18 Prozent herunterschrauben, was auch auf neue Analysemethoden zurückzuführen ist.

"Geoneutrinos sind die einzigen direkten Signale der radioaktiven Zerfälle, die im Erdinneren stattfinden und einen noch unbekannten Anteil der Energie erzeugen, die die gesamte Dynamik unseres Planeten antreibt", erklärt Prof. Dr. Livia Ludhova, derzeit eine der beiden wissenschaftlichen Koordinatoren von Borexino und Leiterin der Neutrino-Gruppe des Instituts für Kernphysik am Forschungszentrum Jülich.

Das Innere der Erde baut sich in drei Schalen auf: die feste Erdkruste bis etwa 50 Kilometer Tiefe, der zähflüssige Erdmantel bis 2.900 Kilometer Tiefe sowie der geschmolzene äußere und der darunterliegende feste innere Erdkern. Gängige Modelle erwarten einen Großteil des Geoneutrino-Signals aus der Erdkruste, einen geringeren Beitrag aus dem Mantel und praktisch keine Geoneutrinos aus der Kernregion. Mit den neuen Ergebnissen von Borexino ist es den Forschern nun erstmals gelungen, den Beitrag von Geoneutrinos aus dem Erdmantel getrennt vom Signal der Lithosphäre zu bestimmen, die die Erdkruste und die obersten Mantelschichten umfasst.

Die Schalenstruktur des Erdinneren ist in vielerlei Hinsicht einzigartig im gesamten Sonnensystem. Man denke etwa an das im äußeren Kern erzeugte intensive Magnetfeld, die unablässige vulkanische Aktivität, die Bewegung der tektonischen Platten und die langsamen Konvektionsströme im Erdmantel. Die Frage, aus welchen Quellen sich diese dynamischen Prozesse und die dafür verantwortliche innere Wärme der Erde speisen, beschäftigt die Wissenschaft bereits seit über 200 Jahren.

"Die Hypothese, dass in der Tiefe keine Radioaktivität mehr vorhanden ist, kann jetzt mit 99-prozentiger Sicherheit ausgeschlossen werden. Das ermöglicht es nun zum ersten Mal, einen Mindestgrenzwert für die Uran- und Thorium-Häufigkeiten im Erdmantel festzulegen", konstatiert Ludhova.

Interessante Werte für Erdmodellrechnungen

Die Werte sind für unterschiedliche Erdmodellrechnungen interessant. So lässt sich mit 85-prozentiger, Wahrscheinlichkeit daraus ableiten, dass radioaktive Zerfallsprozesse im Inneren der Erde mehr als die Hälfte der inneren Wärme der Erde erzeugen. Der verbleibende Wärmeanteil ist sehr wahrscheinlich ein Relikt aus der ursprünglichen Formation unseres Planeten. Radioaktive Prozesse in der Erde stellen demnach einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Energie bereit, die Vulkane, Erdbeben und das Erdmagnetfeld antreibt.

Die Mainzer Wissenschaftler um Prof. Dr. Michael Wurm, Physiker am Institut für Physik und dem Exzellenzcluster PRISMA+ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) haben sich im Rahmen der aktuellen Messungen damit beschäftigt, wie der durch kosmische Myonen erzeugte Untergrund möglichst effektiv in der Datenanalyse ausgeblendet werden kann. Das Problem: Kosmische Myonen sind die einzigen Teilchen, die im Fels eine ausreichende Reichweite haben, um den Borexino-Detektor zu erreichen. Hier rufen sie mitunter zeitlich verzögerte Signale durch radioaktive Zerfälle hervor, die sich auf den ersten Blick von einem echten Neutrinosignal nicht unterscheiden lassen. "Wir haben die Analyse von Myonen und ihren Folgeereignissen dahingehend verbessert, dass weniger echte Signale von Geoneutrinos verworfen werden müssen", erläutert Wurm. "Damit ließ sich der nutzbare Datensatz um etwa zehn Prozent vergrößern. Das Aufspüren dieser kosmischen Untergrundquellen ist sozusagen unsere Spezialität beim Borexino-Experiment."

Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin Physical Review D publiziert. Die Veröffentlichung stellt über die neuen Resultate hinaus eine umfassende physikalische und geologische Analyse vor, die für die nächste Generation von Flüssigszintillationsdetektoren zur Messung von Geoneutrinos hilfreich sein wird. Die nächste Herausforderung für die Forschung mit Geoneutrinos besteht nun darin, Geoneutrinos aus dem Erdmantel mit größerer Präzision zu messen, vielleicht mit Detektoren, die an verschiedenen Positionen auf unserem Planeten verteilt sind. Ein solcher Detektor wird der JUNO-Detektor in China sein, an dem die Jülicher und Mainzer Neutrino-Gruppen ebenfalls beteiligt sind. Der Detektor wird um einen Faktor 70 größer sein als Borexino, was dazu beiträgt, dass schon in einer kurzen Zeitspanne eine höhere statistische Signifikanz erreicht werden kann.