Nachgewiesene Neutrinos werden im Sonneninneren bei Kernzerfällen des Isotops Bor-8 erzeugt / Zusammenstoß mit Atomkernen des XENONnT-Detektors erzeugt niederenergetische Kernrückstöße
11.07.2024
PRESSEMITTEILUNG DER XENON-KOLLABORATION
Die Forschung geht bereits seit Langem davon aus, dass Dunkle-Materie-Detektoren wie das XENONnT-Experiment auch Sonnenneutrinos beobachten können. Diese Neutrinos, die leichtesten bekannten Elementarteilchen überhaupt, entstehen in Kernprozessen im Sonneninneren und strömen ungehindert bis zur Erde. Der Nachweismechanismus für diese extrem schwach wechselwirkenden Neutrinos aus dem Zerfall von Bor-8 und für Dunkle Materie ist dabei identisch: Die Teilchen reagieren kohärent, also gleichzeitig, mit dem gesamten Xenon-Atomkern. Dieser erfährt dabei einen Kernrückstoß, der wiederum ein niederenergetisches Signal erzeugt. Da derartige Reaktionen sehr selten sind, werden zur Messung extrem empfindliche Detektoren benötigt. Diese müssen einen großen Datensatz, eine geringe Energieschwelle sowie einen sehr niedrigen Untergrund an Störsignalen aufweisen.
XENONnT ist eines der weltgrößten und empfindlichsten Experimente zur direkten Suche nach Dunkler Materie. Es befindet sich tief unter der Erde im Laboratori Nazionali del Gran Sasso (LNGS) des Istituto Nazionale di Fisica Nucleare (INFN) in Italien. Das LNGS ist ein großes Untergrundlabor für Teilchen- und Astrophysik und bietet eine einzigartige Umgebung, in der die kosmische Strahlung durch das abschirmende Gestein erheblich reduziert wird. Der Betrieb immer empfindlicherer Experimente im Rahmen des XENON-Programms am LNGS war entscheidend für den Erfolg der nun vorgestellten Messung.
Der zentrale Detektor von XENONnT nutzt 5,9 Tonnen hochreines flüssiges Xenon als Detektionsmedium. Teilchenwechselwirkungen im Xenon erzeugen Lichtsignale, die mit hochempfindlichen Sensoren nachgewiesen werden. Um solch extrem seltene Ereignisse wie den jetzt vorgestellten Neutrino-Nachweis messen zu können, besteht das XENONnT-Experiment aus mehreren modernsten Teilsystemen. Dazu gehören etwa kryogene Anlagen, um das flüssige Xenon auf der erforderlichen Temperatur von -100 Grad Celsius zu halten, sowie innovative Kontroll- und Datenerfassungssysteme. Weitere Systeme verringern die verbleibenden Störsignale auf ein bislang unerreichtes Niveau: Zwei kryogene Destillationsanlagen entfernen kleinste Spuren von im Xenon vorkommenden radioaktiven Elementen und ein mit 700 Tonnen Wasser gefüllter Tank umgibt den Detektor, um über den Tscherenkov-Effekt den von Neutronen und Myonen induzierten Untergrund weiter zu reduzieren.
Hochenergetische Neutrinos von der Sonne wechselwirken mit den Xenon-Atomkernen in XENONnT durch kohärente elastische Neutrino-Kern-Streuung (CEvNS). Dieser erstmals 1974 vorhergesagte Prozess blieb aufgrund der sehr niedrigen Kernrückstoßenergie und der geringen Wechselwirkungsrate der Neutrinos lange unbeobachtet. Erst 2017 gelang es dem COHERENT-Experiment, CEvNS mit Neutrinos aus einer künstlichen Neutrinoquelle zu beobachten. XENONnT ist das erste Experiment, das CEvNS von Neutrinos aus der Sonne nachgewiesen hat. Damit reiht sich XENONnT ein in die Liste berühmter Sonnenneutrino-Experimente wie etwa SNO, Borexino oder SuperKamiokande, die aber typischerweise zehn- bis 500-mal größer sind.
Für das jetzt präsentierte Ergebnis wurden Daten von XENONnT verwendet, die über einen Zeitraum von zwei Jahren, vom 7. Juli 2021 bis zum 8. August 2023, gesammelt wurden. Dabei wurde ein Überschuss an niederenergetischen Kernrückstoßereignissen gegenüber dem erwarteten Untergrund gemessen, der mit dem vorhergesagten Signal von solaren Bor-8-Neutrinos vereinbar ist. Die statistische Signifikanz beträgt 2,7 Sigma. Dies bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem Ergebnis um eine zufällige Untergrund-Fluktuation handelt, nur 0,35 Prozent beträgt. Das Ergebnis wurde in einer blinden Analyse erzielt: Um mögliche menschliche Einflussnahme zu vermeiden, blieb den Forschenden der eigentliche Signalbereich verborgen, bis die Analyse fertiggestellt war.
Diese erste Messung der kohärenten elastischen Neutrino-Kern-Streuung mittels einer astrophysikalischen Neutrinoquelle bestätigt gleichzeitig das hervorragende Verständnis von Signalen kleinster Energie im XENONnT-Detektor. Darüber hinaus eröffnet das Ergebnis ein neues Kapitel für die direkte Suche nach Dunkler Materie: XENONnT hat jetzt begonnen, den sogenannten Neutrino-Nebel zu erforschen, in dem die extrem seltenen Neutrino-Wechselwirkungen erheblich zum Untergrund der Dunkle-Materie-Suche beitragen. Da XENONnT weiterhin Daten sammelt, freut sich die Kollaboration auf weitere Entdeckungen.
Aus dem deutschsprachigen Raum sind das Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg, die Universitäten Freiburg, Mainz und Münster, das Karlsruhe Institut für Technologie (KIT) und die Universität Zürich an XENONnT beteiligt. Alle Gruppen haben wichtige Beiträge zu verschiedenen Detektorsystemen geleistet und waren aktiv an der Datenanalyse beteiligt.
"Durch die Messung von Kernrückstößen mit Neutrinos ist XENONnT das erste Experiment, das die Kernfusion im Innern der Sonne über diese kohärente Streuung der Neutrinos mit allen Neutronen im Xenon-Atomkern nachweist", fasst Prof. Dr. Uwe Oberlack, Leiter der XENON-Gruppe am Exzellenzcluster PRISMA+ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), den Erfolg des Experiments zusammen. "Die Schwierigkeit dieser Messung besteht darin, eine möglichst niedrige Energieschwelle zu erreichen. Hierzu hat die Mainzer Gruppe unter anderem durch Niederenergie-Kalibrierungen beigetragen, etwa mit einer hier entwickelten 37Ar-Quelle und einer Messung von Kernrückstößen, die mit dem ebenfalls in Mainz mitentwickelten XENONnT-Neutronendetektor markiert werden."