Buchveröffentlichung zum Thema "Zwischenmenschliche Vergebung" untersucht das Phänomen aus protestantisch-theologischer Sicht / Abgrenzung von menschlicher und göttlicher Vergebung gefordert
24.04.2024
Ist von Vergebung die Rede, wird im westlichen Kulturkreis schnell an religiöse Vorstellungen und vielleicht auch speziell das Christentum gedacht. So scheint etwa im Vaterunser die Vergebung von Schuld eine zentrale Rolle zu spielen. Aber darüber hinaus befassen sich viele Bereiche wie Psychologie und Medizin, Soziologie und Philosophie mit Vergebung, ohne dass der Begriff allerdings eindeutig definiert wäre. "Im theologischen Bereich ist seit jeher viel von Vergebung die Rede, wobei häufig ein hoher moralischer Anspruch damit verbunden ist", sagt Dr. Ulrike Peisker von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Peisker ist Wissenschaftlerin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät und hat ein Buch über das Phänomen "Vergebung" veröffentlicht. Sie plädiert in ihrer Untersuchung insbesondere dafür, in der Theologie zwischen der göttlichen Vergebung und der zwischenmenschlichen Vergebung deutlich zu unterscheiden. Dass für beides der Begriff der Vergebung verwendet wird, führe nämlich in die Irre, denn es täusche darüber hinweg, dass es sich um völlig unterschiedliche Vollzüge handle. "Durch die sachgemäße Unterscheidung kann zwischenmenschliche Vergebung vor einer religiösen Überhöhung bewahrt werden. Religiöse Appelle, man solle einander so vergeben, wie Gott dem Menschen vergeben hat, erweisen sich dann als unhaltbar."
Minimalkonsens: Vergebung als das Aufgeben von negativen Gefühlen
Mit dem Thema "Vergebung" befassen sich ganz unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen. Medizinische Studien zeigen zum Beispiel, dass sich eine nicht vergebende Haltung negativ auf die Blutdruckwerte auswirken kann. In der Theologie wird häufig wie selbstverständlich von Vergebung gesprochen und ein vergebendes Verhalten als christliche Tugend betrachtet, ohne dass der Mechanismus genau beschrieben würde. "Ein weitgehend akzeptierter Minimalkonsens in der Wissenschaft definiert Vergebung als das Aufgeben von negativen Emotionen gegenüber dem Verursacher einer Verletzung", erklärt Ulrike Peisker. "Es ist aber umstritten, ob beide Parteien – Verletzer und Verletzte – bei der Vergebung mitwirken müssen."
Unklar ist auch, ob Vergebung aktiv betrieben werden kann und ob der Entschluss dazu überhaupt in unserer eigenen Macht steht, oder ob sie dem Vergebenden zufällt wie etwa ein Lottogewinn. Gelingende Vergebung, davon gehen vor allem Stimmen in den Sozialwissenschaften und der Philosophie aus, erfordert ein gemeinsames Bewusstsein aller Beteiligten darüber, dass ein Vergeben stattfindet oder stattgefunden hat. Die Psychologie stellt demgegenüber eher die individuellen Prozesse in den Vordergrund und betrachtet Vergebung als eine Copingstrategie, um mit Verletzungen umzugehen. "Jede Wissenschaft hat gewissermaßen ihre eigene Vorstellung von Vergebung", so Ulrike Peisker. Einen wahren Boom erlebt das Thema derzeit in der Ratgeberliteratur und im Coaching, etwa mit Kursen, die unterrichten, wie man vergibt. Die Übergänge zur Esoterik sind dabei mitunter fließend.
Für Vergebung kann es keine Gründe geben
Aber wann genau, in welchem Fall kann überhaupt die Rede von Vergebung sein? Ulrike Peisker vertritt die Auffassung, Vergebung könne nur da erfolgen, wo nichts dafür spricht zu vergeben. "Wenn es Gründe gibt zu vergeben, ist es keine Vergebung, sondern beispielsweise Verständnis für die Situation des anderen, Nachsicht oder ein Entschuldigen. Die Möglichkeit der Vergebung taucht nur dort auf, wo sich kein vernünftiger Grund finden lässt zu vergeben, das heißt wo es um Unverzeihliches statt um Verzeihliches geht. Was verzeihlich ist, braucht keine echte Verzeihung."
Unterscheidung zwischen menschlicher und göttlicher Vergebung
Vor diesem Hintergrund spricht sich die Wissenschaftlerin dafür aus, das Wort "Vergebung" sparsamer zu verwenden, sodass der Blick auf "echte Vergebung" frei wird. An die Theologie richtet sie die Aufforderung, die wissenschaftlichen Erkenntnisse anderer Disziplinen aufzugreifen und das allgemein gängige Verständnis von Vergebung zu berücksichtigen. "Ich plädiere dafür, dass die Theologie zwischen menschlicher Vergebung und göttlicher Vergebung trennen sollte." Ulrike Peisker erläutert in ihrem Buch "Zwischenmenschliche Vergebung" diese Auffassung, geht aber darüber hinaus auch auf andere Mechanismen wie Strafe, Rache, Wiedergutmachung oder Versöhnung ein, mit denen auf Verletzungen reagiert wird. Das ausgleichende Denken, also auf Unrecht mit entsprechender Ahndung zu reagieren, bestimmt die Realität stärker, als wir vielleicht zugeben möchten, weil es dem unmittelbaren Gerechtigkeitsempfinden zugänglich ist – anders als die "Zumutung der Vergebung".
Ulrike Peisker, geboren 1993, hat evangelische Theologie und Anglistik studiert. Ihre Promotion erfolgte 2023 an der Goethe-Universität Frankfurt zum Thema zwischenmenschliche Schuld und ihrer Vergebung. In ihrem aktuellen Habilitationsprojekt befasst sie sich mit der Frage nach der Aktualität der theologischen Rede vom doppelten Ausgang des Gerichts, also der Vorstellung von Himmel und Hölle. Ihr Buch "Zwischenmenschliche Vergebung. Phänomenologische Betrachtungen in protestantischer Perspektive" wurde im Verlag Mohr Siebeck veröffentlicht und ist sowohl gedruckt wie auch kostenfrei in Open Access erhältlich.