Studie verbindet Linguistik, Archäologie und Genetik und zeigt gemeinsamen Ursprung und Verbreitung der transeurasischen Sprachen ab dem Beginn der frühen Jungsteinzeit
17.12.2021
Über 200 Millionen Menschen auf der Welt sprechen eine transeurasische Sprache. Das Verbreitungsgebiet reicht vom Mittelmeer bis zum Pazifik und umfasst die Sprachfamilien Japanisch, Koreanisch, Tungusisch, Mongolisch sowie die Turksprachen. Eine neue Studie zeigt, dass sie alle auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen, der vor über 9.000 Jahren im West-Liao-Flusstal, einer Region im Nordosten Chinas, sein Zentrum hatte. Mit den Wanderbewegungen der ersten Bauern verbreitete sich die transeurasische Ursprache und spaltete sich im Laufe der Jungsteinzeit in unterschiedliche Sprachzweige auf. Die frühe Ausbreitung der transeurasischen Sprachen wurde durch die Landwirtschaft vorangetrieben und nicht, wie früher vermutet, durch Hirtenkulturen. Die Studie erfolgte unter der Leitung der Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Martine Robbeets und verbindet Forschungsarbeiten aus der Linguistik, der Archäologie und der Genetik.
Ähnlichkeiten der transeurasischen Sprachen werfen Fragen auf
Die transeurasischen Sprachen umfassen eine große Gruppe geografisch benachbarter Sprachen, die einige Ähnlichkeiten aufweisen. "Ihr Ursprung und die frühe Ausbreitung ist eine der meistdiskutierten Fragen der vergleichenden Sprachwissenschaft", sagt Martine Robbeets, Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte und Honorarprofessorin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). "Die Ähnlichkeiten unter den Sprachen beruhen oft auf Entlehnungen, aber es gibt einen kleinen Kern von Wörtern, der zeigt, dass diese Sprachen von jeher verwandt sind."
Weil es sich um sehr alte Sprachfamilien handelt, ist die Herkunft schwer nachzuvollziehen. Das Team um Martine Robbeets hat für die linguistische Untersuchung einen neuen Datensatz erstellt, der fast 3.200 verwandte Datenpunkte aus 98 transeurasischen Sprachen umfasst, darunter auch Dialekte und historische Sprachvarianten. Damit konnte ein Stammbaum gezeichnet werden, der den proto-transeurasischen Ursprung der Sprachen vor etwa 9.250 Jahren aufzeigt. Proto-Altaisch, also die "Dachsprache" von Türkisch, Mongolisch und Tungusisch, ist demnach knapp 6.900 Jahre alt, der japanisch-koreanische Zweig spaltete sich vor gut 5.500 Jahren ab. Der Datensatz diente auch zur Modellierung der regionalen Verbreitung der transeurasischen Sprachen: Ihr Ursprung im frühen Neolithikum lag demzufolge in der West-Liao-Flussregion, Aufspaltungen in der Jungsteinzeit und der Bronzezeit gingen mit einer Ausbreitung nach Norden, Westen und Osten einher.
Eine Analyse von Wörtern der rekonstruierten Ursprache liefert Hinweise auf die Lebensweise der frühen Bauern. "Wenn wir Wörter rekonstruieren können, dann denken wir, dass die Sprecher diese Wörter auch benutzt haben, also dass sie in ihrem Alltag eine Rolle spielten", so Martine Robbeets. Wörter wie "Feld", "säen" oder "wachsen" weisen auf den Anbau von Pflanzen hin, andere wie "nähen", "weben" oder "spinnen" auf die Textilherstellung. Zu dem kleinen Kreis ererbter Wörter gehören auch "Schwein" und "Hund", offenbar die einzigen Haus- oder Nutztiere. "Außerdem konnten wir in dem Ur-Wortschatz Hinweise auf den Anbau von Hirse finden, nicht aber von Reis, Weizen oder Gerste", so Robbeets.
Archäologische Funde von Hirse weisen ebenfalls auf das West-Liao-Becken als Ausgangspunkt hin
Der Hirseanbau wurde durch die archäologischen Untersuchungen eindrücklich bestätigt. Das Team hatte 255 neolithische und bronzezeitliche Fundstätten für die Analyse pflanzlicher Überreste ausgewählt und ermittelte als Zentrum der neolithischen Kulturen das West-Liao-Becken, wo der Anbau von Rispenhirse vor 9.000 Jahren seinen Anfang nahm. Von hier aus breitete sich der Hirseanbau vor fast 5.600 Jahren nach Korea und vor rund 5.100 Jahren in Richtung Amur-Gebiet aus. Reis kam erst vor etwa vier Jahrtausenden als Kulturpflanze hinzu. "Es war für uns sehr erstaunlich, wie gut die archäologischen Daten mit unserem Sprachbaum übereinstimmen. Dabei sind diese beiden Untersuchungen wie auch die genetischen Analysen komplett unabhängig voneinander erfolgt", erklärt Martine Robbeets zu dem Aufbau der Studie.
Genetik als drittes Glied gibt weitere Hinweise auf Migration
Die West-Liao-Flussregion als Ursprungszentrum der transeurasischen Sprachen und des Hirseanbaus, von dem aus sich die Sprache und die Hirsekultur auf den gleichen Routen verbreitet hat – dies wird durch das dritte Standbein der Forschungen, die genetische Analyse, untermauert. Dazu hat das Team vorhandene Genomanalysen herangezogen und mit neu erhobenen Daten alter DNA kombiniert. Die Auswertung zeigt, dass alle Sprecher transeurasischer Sprachen auf das Amur-genetische Profil zurückgehen. Mit der Migration von Hirsebauern während des Neolithikums gelangten die koreanischen und tungusischen Sprachen nach Osten. Darauf folgte während des späten Neolithikums und der Bronzezeit eine massive Migration von Korea nach Japan, damit verbunden die Sprache und der Anbau von Reis.
"Die Triangulation linguistischer, archäologischer und genetischer Befunde zeigt, dass die Ursprünge der transeurasischen Sprachen auf den Beginn des Hirseanbaus und den frühen Amur-Genpool im neolithischen Nordostasien zurückgeführt werden können", schreiben die Autorinnen und Autoren der Studie in dem Wissenschaftsmagazin Nature. Die Verbreitung dieser Sprachen – und entsprechend auch der Landwirtschaft und der Gene – fand in zwei Hauptphasen statt: Die erste Phase mit den primären Abspaltungen in der transeurasischen Familie erfolgte in der frühen bis mittleren Jungsteinzeit, als sich Hirsebauern mit Amur-verwandten Genen vom West-Liao-Fluss in die angrenzenden Regionen ausbreiteten. Die zweite Phase, die durch Sprachkontakte unter den fünf Tochterzweigen gekennzeichnet ist, fand im späten Neolithikum sowie der Bronze- und Eisenzeit statt, als sich Hirsebauern mit starker Amur-Abstammung mit anderen Populationen vermischten und Reis in den Anbau von Nahrungsmitteln aufnahmen.
Martine Robbeets, Erstautorin des Nature-Beitrags, forscht seit 20 Jahren über die Herkunft und Verbreitung der transeurasischen Sprachen. Sie hat in Belgien und in den Niederlanden Japanisch und Koreanisch studiert und in Vergleichender Sprachwissenschaft promoviert. 2006 kam sie als Nachwuchswissenschaftlerin an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz und war hier von 2010 bis 2014 Leiterin des DFG-Projekts "Die transeurasiatischen Sprachen: Kontakt in der Familie". 2015 wurde Martine Robbeets an der JGU habilitiert, seit 2018 ist sie als Honorarprofessorin am Forschungs- und Lehrbereich Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft tätig und seit September 2020 Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena.