Stadtluft macht aktiv: Kulturelle Angebote werden von Großstädtern häufiger genutzt als von der ländlichen Bevölkerung

Stadt-Land-Studie ist Teil der bislang größten wissenschaftlichen Untersuchung zur kulturellen Bildung und Kulturpartizipation in Deutschland

22.02.2022

Wer in einer Großstadt wohnt, nutzt kulturelle Angebote stärker als die Bevölkerung im ländlichen Raum. Das gilt für fast alle Sparten, besonders aber für klassische Konzerte und Kunstausstellungen. Großstädter gehen mehr als doppelt so häufig in diese Veranstaltungen wie die Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Gebiete. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), die im Rahmen des Projekts "Kulturelle Bildung und Kulturpartizipation in Deutschland" erstellt wurde. "Der Wohnort spielt eine wesentliche Rolle dafür, ob und wie häufig kulturelle Angebote genutzt werden", erklärt Prof. Dr. Gunnar Otte, der Leiter des Projekts am Institut für Soziologie. "Das gilt selbst dann, wenn wir statistisch berücksichtigen, dass sich die Bevölkerung in Städten und auf dem Land unterschiedlich zusammensetzt."

Kulturelle Teilhabe wird umfassend erforscht

Die Versorgung von ländlichen Gebieten gerät immer mehr in den Fokus der gesellschaftlichen Debatten. In der Gesundheitsversorgung, aber auch in anderen Bereichen wie der Kultur wird eine Tendenz zu ungleichwertigen Lebensverhältnissen festgestellt. Doch wie es um die Kultur in Deutschland – das kulturelle Angebot und die kulturelle Teilhabe – genau bestellt ist, war bislang kaum bekannt. Die vorhandenen Daten sind entweder veraltet, spartenspezifisch, regional begrenzt oder komplett unzugänglich. Das Projekt "Kulturelle Bildung und Kulturpartizipation in Deutschland" schließt diese Lücke, indem es die Kulturpartizipation der deutschsprachigen Bevölkerung bundesweit umfassend erforscht. Es handelt sich um die bislang größte wissenschaftliche Untersuchung zu diesem Thema in Deutschland.

Dazu wurde im Jahr 2018 eine Basisstudie durchgeführt, in der 2.592 Personen ab 15 Jahren in Face-to-Face-Interviews befragt wurden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen aus 183 Gemeinden in unterschiedlichen Regionen Deutschlands. Die Interviews dauerten durchschnittlich 76 Minuten. Gleichzeitig wurde die Versorgung der Gemeinden mit Kultureinrichtungen wie Opernhäusern und Kinos anhand offizieller Statistiken ermittelt. Für die Stadt-Land-Studie hat sich das Team um Gunnar Otte auf sechs Kulturformen fokussiert: Klassikkonzerte und Oper, Konzerte von Pop-, Rock- und elektronischer Musik, Schlager- und Volksmusikkonzerte, Theater, Kino und Kunstausstellungen.

Für alle sechs Kulturformen, so die Ergebnisse, nimmt das Angebot mit der Gemeindegröße zu, am stärksten allerdings bei Theatern und klassischer Orchestermusik. "Von der zweitkleinsten bis zur größten Gemeindegröße steigt das Angebot um das 15- bis 20-fache. In Orten unter 50.000 Einwohnern liegt dagegen die Chance, ein Theater oder Orchester anzutreffen, bei nahezu null", sagt Holger Lübbe, Mitarbeiter im Forschungsteam. Ebenso steigt mit der Größe des Wohnorts auch die Nutzungshäufigkeit der kulturellen Angebote – allerdings hier mit Ausnahme der Schlager- und Volksmusikkonzerte, die in großstädtischen Ballungsräumen und in weniger verdichteten Regionen ungefähr gleich häufig besucht werden.

Besuchshäufigkeit ist insgesamt niedrig

Insgesamt sind Kulturbesuche allerdings ziemlich selten: Nur ein Teil der Bevölkerung nimmt die untersuchten Kulturangebote überhaupt wahr, sodass im Durchschnitt ein einziger Besuch pro Jahr der Normalfall ist. Am häufigsten gehen die Menschen ins Kino: die großstädtische Bevölkerung 4,2 Mal im Jahr, die ländliche Bevölkerung 2,7 Mal im Jahr. Bei Klassikkonzerten und Opern liegen die jeweiligen Durchschnittszahlen bei 1,4 für die großstädtischen Ballungsräume und 0,6 für weniger besiedelte Regionen.

Dass Großstädter das kulturelle Angebot vor Ort häufiger nutzen, liegt nicht am Wohnort allein. Auch individuelle Merkmale spielen eine wichtige Rolle. So ist bekannt, dass vor allem die Bildung, aber auch das Einkommen und das Alter die Kulturnutzung maßgeblich beeinflussen. "Wir berücksichtigen allerdings, dass zum Beispiel Akademikerinnen und Akademiker eher in Städten wohnen und häufiger in Konzerte gehen", erklärt Studienleiter Gunnar Otte. Aber auch wenn die Zusammensetzung der Bevölkerung in den Städten und auf dem Land identisch wäre, würde die Landbevölkerung Kulturangebote seltener nutzen. Der Grund dafür wird in der schlechteren Erreichbarkeit und der kleineren Menge unterschiedlicher Angebote vermutet.

Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung

Das Projekt "Kulturelle Bildung und Kulturpartizipation in Deutschland" wird im Zeitraum von 2016 bis 2022 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziell unterstützt und im Rahmen der Forschungsrichtlinie zur kulturellen Bildung gefördert. Für die computergestützten persönlichen Interviews der Erhebungen ist das infas Institut für angewandte Sozialwissenschaft zuständig, das die Befragung im Auftrag der Johannes Gutenberg-Universität Mainz durchführt. In einer zweiten Befragungswelle, die gerade erst abgeschlossen wird, wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Basisumfrage erneut befragt. Damit soll unter anderem herausgefunden werden, wie sich das Kulturverhalten der Bevölkerung durch die Corona-Pandemie verändert hat.