Schulübergang: Kinder weniger gebildeter und einkommensschwächerer Eltern werden diskriminiert

Mainzer Soziologen untersuchen die Bildungschancen von Viertklässlern in Wiesbaden in Abhängigkeit von ihrer sozialen Herkunft

10.09.2008

Kommt ein Kind aus einer niedrigen sozialen Schicht, wird es nicht die gleich hohe Bildungsempfehlung für die weiterführende Schule erhalten wie ein Kind aus einer hohen Sozialschicht, selbst wenn die beiden Kinder in der Grundschule die gleichen Noten erreichen. "Lehrerinnen und Lehrer an Grundschulen entscheiden offenbar nicht nur aufgrund von Schulleistungen über die Empfehlung, die sie für die weiterführende Schule nach der 4. Klasse abgeben, sondern auch aufgrund der sozialen Herkunft der Kinder", teilt Prof. Dr. Dr. Stefan Hradil vom Institut für Soziologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit. Dass dabei Kinder mit Migrationshintergrund häufig eine ungünstigere Bildungsempfehlung erhalten, ist nicht auf ihre fremdländische Herkunftsfamilie zurückzuführen, sondern auf den durchschnittlich niedrigeren Sozialstatus von Migranten. Zu diesen Ergebnissen kam eine Erhebung, die unter allen Viertklässlern in den staatlichen Grundschulen der Stadt Wiesbaden im Jahr 2007 durchgeführt wurde. "Obwohl vergleichbare Studien rar sind, ist anzunehmen, dass die Situation an vielen anderen Orten der Bundesrepublik ähnlich ist", so Hradil. Unter seiner Leitung hat die Abteilung Sozialstruktur und soziale Ungleichheit des Instituts für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Zusammenarbeit mit dem Amt für soziale Arbeit der Stadt Wiesbaden die Erhebung durchgeführt.

Im Jahr 2005 wurde ein kommunaler Sozialbericht zur Bildungsbeteiligung der Stadt Wiesbaden vorgestellt. Bereits hier wurde deutlich, dass eine effiziente Bildungspolitik die beste zukunftsorientierte Sozial- und Wirtschaftspolitik darstellt und dass auch die knappen öffentlichen Mittel entsprechend eingesetzt werden sollten. Der Bericht zeigte, dass der Bildungserfolg in Wiesbaden, wie in Deutschland insgesamt, zunehmend zuungunsten von Jungen und Kindern mit Migrationshintergrund ausfällt. Allerdings konnte damals die soziale Schicht der Kinder nicht berücksichtigt werden – eine Datenlücke, die mit dem jetzt vorgelegten Forschungsbericht geschlossen wurde.

Die Daten für diesen 70-seitigen Bericht wurden im März 2007 erhoben. Es hatten sich alle 35 staatlichen Grundschulen und 103 von 105 vierten Klassen beteiligt. Von den 2.303 Grundschülern und Grundschülerinnen im 4. Jahrgang konnten 2.032 und damit 88% tatsächlich befragt werden. Diese Antwortquote ist sehr hoch. Hinsichtlich der Sozialstruktur ergab die Vollerhebung, dass 43% der Wiesbadener Grundschüler einen Migrationshintergrund aufweisen, also mindestens ein Elternteil des Kindes oder das Kind selbst nicht in Deutschland geboren ist. Von den Kindern mit Migrationshintergrund leben rund 45% in Armut, während es bei den Kindern ohne Migrationshintergrund nur rund 17% sind. Nahezu 46% der Schüler mit Migrationshintergrund und 23% der Schüler ohne Migrationshintergrund leben in einer bildungsfernen Sozialschicht, d.h. in der Unterschicht bzw. unteren Mittelschicht – Einordnungen, die sich am Schulabschluss der Eltern und dem Pro-Kopf-Einkommen der Familie orientieren.

"Wir haben festgestellt, dass insbesondere die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht Auswirkungen auf die Schulnoten der Kinder und auf den Bildungswunsch der Eltern hat", erklärt Hradil zu den Untersuchungsergebnissen. So sind die Noten von Kindern der Unterschicht in Mathematik und Deutsch durchschnittlich um mindestens eine Note schlechter als die der Oberschichtkinder. Bei den Mädchen ist der Unterschied sogar noch größer und beträgt bis zu 1,4 Notenpunkte. Demgegenüber schneiden Kinder mit Migrationshintergrund im Durchschnitt nur etwa 0,2 bis 0,3 Notenpunkte schlechter ab als einheimische Kinder. Wie eine begleitende Befragung der Eltern ergab, wünschen sich 54% der Eltern einen Übergang ihres Kindes auf ein Gymnasium. Dabei haben Eltern aus höheren Schichten höhere Bildungswünsche als Eltern aus der Unterschicht. "Diese höheren Bildungsaspirationen in der Oberschicht fanden wir auch dann, wenn die Kinder in den Referenzfächern Mathematik und Deutsch das gleiche Notenniveau zeigten wie Kinder aus der Unterschicht", ergänzt Hradil.

Die Bildungsempfehlungen fallen dementsprechend aus. Kinder aus der Oberschicht erhalten zu 81% eine Gymnasialempfehlung, gegenüber nur 14% der Kinder aus Unterschichthaushalten. Mit zunehmender Sozialschichtzugehörigkeit wird immer seltener eine Hauptschulempfehlung ausgesprochen, wobei in der Oberschicht eine Hauptschulempfehlung nahezu nicht mehr vorkommt.

Der deutlichste Indikator für eine Gymnasialempfehlung ist, so ermittelten die Mainzer Soziologen, das Bildungsniveau der Eltern. Wenn ihre Eltern über höchstens einen Hautschulabschluss verfügen, haben Kinder ohne Migrationshintergrund in der untersten Einkommensgruppe eine Wahrscheinlichkeit für eine Gymnasialempfehlung von ca. 18%. Diese Wahrscheinlichkeit beträgt rund 63%, wenn mindestens ein Elternteil wenigstens das Abitur hat. In der oberen Einkommensgruppe beträgt die Wahrscheinlichkeit einer Gymnasialempfehlung ca. 45% bei Eltern mit höchstens einem Hauptschulabschluss und rund 86%, wenn mindestens ein Elternteil das Abitur gemacht hat. "Das Einkommen der Eltern spielt zwar auch eine Rolle für die Gymnasialempfehlung, noch bedeutender ist aber ihr Bildungsniveau", fasst Hradil zusammen.

Vergleicht man Kinder mit und ohne Migrationshintergrund, dann zeigt sich, dass Kinder ohne Migrationshintergrund zu 66% eine Gymnasialempfehlung erhalten und Kinder mit Migrationshintergrund nur zu 50%. Kinder mit Migrationshintergrund haben also schlechtere Bildungschancen als deutsche Kinder. "Dieser Abstand lässt sich aber nahezu vollständig auf die schlechtere Einkommens- und Bildungsposition der betroffenen Haushalte mit Migrationshintergrund zurückführen. Die schlechteren Bildungschancen von Migrantinnen und Migranten sind also letztlich ein 'Unterschichtungsphänomen'", heißt es in dem Bericht.

Aber nicht nur das: Die Bildungsempfehlungen sind selbst dann eine Frage der sozialen Herkunft, wenn die Schüler und Schülerinnen die gleichen Leistungen bringen. Zwar sind die Noten selbst immer noch der wichtigste Einflussfaktor dafür, ob die Empfehlung für ein Gymnasium erteilt wird oder nicht. Betrachtet man aber zum Beispiel nur Kinder mit der Durchschnittsnote 2,0, dann bekommen Kinder aus der niedrigsten Bildungs- und Einkommensgruppe nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 76% eine Gymnasialempfehlung, während in der höchsten Bildungs- und Einkommensgruppe nahezu alle Kinder, nämlich 97%, eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten. Bei schlechteren Noten hat die soziale Herkunft eine noch größere Bedeutung. Warum Kinder aus unteren Schichten selbst bei guten Noten seltener eine Gymnasialempfehlung erhalten, kann nach Einschätzung der Autoren der Studie vielfältige Ursachen haben: unbewusste Diskriminierungen durch die Klassenlehrerinnen und -lehrer oder unterschiedliche Bildungswünsche der Eltern etwa. Der Migrationshintergrund hat dagegen keinen negativen Einfluss auf Bildungsempfehlungen, es besteht also nach Kontrolle der Sozialschicht keine Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund.

Tatsache ist auch, so ergaben die Erhebungen weiter, dass die realisierten Übergänge ins Gymnasium fast vollständig dem Muster der Bildungsempfehlungen folgen. "Auch der Übergang ins Gymnasium ist also bis zu einem gewissen Grade nicht leistungsgerecht. Kinder weniger gebildeter und einkommensschwächerer Eltern werden ein Stück weit diskriminiert", so die Studie.