Reisen und davon erzählen: Forschungsprojekt untersucht Reiseberichte am Übergang zur Moderne

Reisebeschreibungen gewinnen ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa an Popularität und damit an sozialer und politischer Bedeutung

01.10.2019

Reiseberichte erfreuten sich seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Vor allem Engländer, aber auch Deutsche und Franzosen berichteten in verschiedenen literarischen Formen über ihre Erfahrungen und Erlebnisse im Ausland. "Reisebeschreibungen waren damals in Europa ausgesprochen beliebt. Mit ihrer großen Verbreitung und ihren Darstellungen haben sie einen maßgeblichen Beitrag zur Ausbildung des Bürgertums und der Entstehung von Nationalstaaten geleistet." Diese Einschätzung vertritt Dr. Sandra Vlasta, die im Rahmen eines EU-geförderten Projekts an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) über Reiseberichte aus den Jahren 1760 bis 1850 forscht. "Die Berichte haben die sozialen und politischen Entwicklungen im Europa der Sattelzeit nicht nur beschrieben, sondern auch aktiv mitgestaltet", so die Literaturwissenschaftlerin. Reiseberichte waren demnach in der Zeit zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts ein wichtiges Medium, das den Prozess der sozialen, kulturellen und politischen Veränderungen in Europa beeinflusst hat.

In den 1840er-Jahren berichtet die deutsche Schriftstellerin Fanny Lewald aus Rom. Die italienische Metropole wurde im 19. Jahrhundert von Künstlern aus ganz Europa aufgesucht. Lewald beschreibt diese Künstlerszene und vergleicht die verschiedenen Nationalitäten. Dabei bemerkt sie, dass es für deutsche Künstler von Vorteil wäre, wenn sie statt der kleinstaatlichen Zersplitterung eine starke Nation im Rücken hätten, die sie, wie andere Nationalitäten auch, finanziell unterstützen könnte. "Fanny Lewald macht über Umwege Aussagen darüber, dass sie eine deutsche Nation befürworten würde", so Vlasta. "Man sieht in den Reiseberichten deutlich, dass sich Autorinnen und Autoren mit ihren Meinungen in die Diskussionen der damaligen Zeit einschalten. Das ist angesichts der hohen Auflagen dieser Berichte nicht zu unterschätzen."

Reiseberichte tragen zur Bildung individueller und nationaler Identität bei

Der Reisebericht stellt eines der ältesten Genres der literarischen Geschichtsschreibung dar. Die frühesten Reiseberichte sind aus der griechischen Antike bekannt. Aber erst die Erweiterung des Postkutschenverkehrs auf den Personentransport und – ganz entscheidend – der Ausbau des Eisenbahnwesens führten zur Verbesserung der Reisemöglichkeiten und damit zur Verbreitung der Reiseliteratur. "Ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nimmt das Interesse an Reisen enorm zu. Es gibt erste Reiseveranstalter, das Reisen wird einfacher und es können jetzt auch größere Bevölkerungskreise eine Reise unternehmen", erklärt Vlasta den Aufschwung. Damit einher geht die zunehmende Beliebtheit des Reiseberichts als Genre: Er ist ein Bindeglied zwischen Fachtext und Literatur, zwischen Nachricht und Fiktion. Er thematisiert Politik, Kultur, Geografie und Geschichte gleichermaßen, sodass fast jeder Leser etwas darin finden kann. "Die Reisebeschreibungen dienten auch dem Aushandeln der eigenen Identität: Was möchte man gern aus anderen Ländern übernehmen, wie möchte man sich abgrenzen? Was macht uns als Nation aus und was macht mich als Individuum aus?", beschreibt Vlasta die Funktion der Texte, die damit den Prozess der Individualisierung und der Bildung kollektiver nationaler Identitäten vorantrieben.

Dass Reisebeschreibungen keine Existenz am Rande des Literaturbetriebs führten, zeigt sich auch an der Vielzahl renommierter Autoren, die auf diesem Gebiet veröffentlicht haben: Victor Hugo, Charles Dickens und George Sand, um nur ein paar wenige zu nennen. "Was mich als Literaturwissenschaftlerin besonders interessiert: Wie arbeiten die Autorinnen und Autoren mit der Sprache und den Begriffen, um kulturelle Eigenheiten, Unterschiede, aber auch Ähnlichkeiten zu transportieren?" Vlasta hat für ihre Erhebungen eine Liste von 100 bis 120 Werken erstellt, die sie zum Teil auch im englischen, französischen oder italienischen Original liest. Ihr Schwerpunkt liegt auf Reiseberichten von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, aber viele Reiseberichte wurden auch von Diplomaten und anderen Beamten verfasst. "Es ist interessant, wie unterschiedlich von den gleichen Orten berichtet wird, weil die Autoren verschiedene Absichten verfolgen", so Vlasta. Bei Charles Dickens beispielsweise findet sich die aus den Romanen bekannte sozialkritische Haltung auch in den Reiseberichten wieder.

Förderung im Rahmen der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen der Europäischen Kommission

Sandra Vlasta hat an der Universität Wien Vergleichende Literaturwissenschaft und Anglistik studiert und in Vergleichender Literaturwissenschaft promoviert. Sie ist seit Oktober 2017 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien der JGU im Arbeitsbereich Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft tätig. Ihr Projekt "European Travel Writing in Context. The Socio-Political Dimension of Travelogues 1760-1850" wird durch ein Marie-Skłodowska-Curie-Fellowship für zweieinhalb Jahre bis Ende März 2020 gefördert. Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen wurden von der Europäischen Kommission eingerichtet, um die länder- und sektorübergreifende Mobilität und die Karriereentwicklung im wissenschaftlichen Bereich zu fördern. Im Rahmen des Fellowships verbrachte Dr. Sandra Vlasta fünf Monate an der Nottingham Trent University, an der das "Centre for Travel Writing Studies" angesiedelt ist.