Neues Elektronenstreuexperiment zur Anregung eines Heliumkerns wirft substanzielle Fragen zum heutigen Verständnis von Kernkräften auf

Theoretische Vorhersagen und neue, mit großer Genauigkeit gemessene experimentelle Daten an 4He klaffen auseinander

18.04.2023

Am Mainzer Teilchenbeschleuniger MAMI hat die A1-Kollaboration im Rahmen der Doktorarbeit von Dr. Simon Kegel die Anregung eines α-Teilchens, dem Atomkern eines 4He-Atoms, von seinem Grundzustand zum ersten angeregten Zustand neu und mit bisher unerreichter Genauigkeit systematisch vermessen. Die Gegenüberstellung von Experiment und aktuellen Berechnungen aus der zugehörigen Niederenergie-Theorie zeigt, dass die Anregung von α-Teilchen basierend auf dem heutigen Verständnis von Kernkräften nicht korrekt beschrieben wird – und wirft damit viele Fragen auf. Der wissenschaftliche Artikel wurde als Empfehlung der Herausgeber in der renommierten Fachzeitschrift Physical Review Letters veröffentlicht.

Die Eigenschaften von Atomkernen wie etwa Größe oder Bindungsenergie werden maßgeblich von den Kernwechselwirkungen zwischen den Protonen und Neutronen innerhalb des Kerns bestimmt.
Diese Wechselwirkungen lassen sich einerseits phänomenologisch beschreiben, andererseits können sie mittels moderner Ansätze systematisch berechnet werden, wobei insbesondere die sogenannte chirale effektive Feldtheorie großes Potential verspricht. Je größer der Kern ist, desto komplizierter werden die Rechnungen, weshalb sich naturgemäß kleinere Kerne anbieten, um verschiedene Aspekte der Theorie herauszuarbeiten und mittels experimenteller Daten zu überprüfen. Der Atomkern eines 4He-Atoms, auch als α-Teilchen bezeichnet, besteht aus zwei Protonen und zwei Neutronen. Aufgrund der geringen Anzahl von Bestandteilen eignet er sich hervorragend für solche systematischen Untersuchungen und ist einer der am umfassendsten untersuchten Atomkerne.

An MAMI wurde nun die Anregung eines α-Teilchens von seinem Grundzustand in den ersten angeregten Zustand präzise untersucht. Dazu wurde der sogenannte Monopol-Übergangs-Formfaktor in einem Elektronstreuexperiment bei kleinen Impulsüberträgen von den Elektronen auf den Kern vermessen mit dem Ziel, die Daten mit der derzeit besten theoretischen Vorhersage zu vergleichen. Die Genauigkeit dieser neuen Daten übertrifft die aus früheren Experimenten dramatisch, zumal die älteren Datensätze jeweils nur einen Teil des nun vermessenen Impulsübertragbereichs abdeckten.

Inkonsistenz zwischen experimentellen Daten und theoretischen Vorhersagen

Die nun extrahierten Formfaktoren aus Experiment und Theorie zeigen zwar einen ähnlichen Verlauf als Funktion des Impulsübertrags, weichen jedoch signifikant um etwa einen Faktor 2 voneinander ab. Die bisherigen Messungen hatten eine Diskrepanz zur Theorie bereits nahegelegt, die experimentellen Unsicherheiten waren aber zu groß, um daraus Schlüsse ziehen zu können.
Aufgrund der nun gesteigerten Präzision kann gefolgert werden, dass die Anregung des α-Teilchens nicht mittels der aktuell verfügbaren Beschreibung von Kernkräften akkurat reproduziert werden kann.

"Das Experiment wurde mit herausragend guter Kontrolle der systematischen Unsicherheiten durchgeführt. Die Unstimmigkeiten mit den besten theoretischen Berechnungen sind somit ein ernster Hinweis darauf, dass entweder ein wichtiges Element der Kernwechselwirkungen übersehen wird, das sich bei diesem Monopolübergang besonders deutlich zeigt, oder dass die Eigenschaften des ersten angeregten Zustands des α-Teilchens sehr stark von kleinsten Details der Kernkräfte abhängen. Beide Möglichkeiten sind sehr interessant und inspirieren uns zu weiteren Studien", kommentiert Prof. Dr. Concettina Sfienti, korrespondierende Autorin der Veröffentlichung, das Ergebnis dieser Arbeit.

Folgeuntersuchungen in Mainz um das Rätsel zu entschlüsseln

Und tatsächlich bieten sich an dem gerade im Bau befindlichen Beschleuniger MESA auf dem Campus hervorragende Möglichkeiten zu experimentellen Folgeuntersuchungen. Im energierückgewinnenden Modus von MESA wird ein Elektronenstrahl mit beachtlich hoher Strahlintensität bereitgestellt, der am MAGIX-Experiment mit einem Gas-Jet-Target zur Kollision gebracht wird. Die gestreuten Teilchen können mittels Magnetspektrometern nachgewiesen werden, die für niedrige Energien optimiert sind. Dies erlaubt Messungen bei noch kleineren Impulsüberträgen als bei A1.

Auch von theoretischer Seite her ist angedacht, Licht ins Dunkel dieses Niederenergie-Rätsels für die Kernkräfte zu bringen. So sollen die Berechnungen des Übergangs-Formfaktors in der Gruppe von Prof. Dr. Sonia Bacca, ebenfalls von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, im Rahmen chiraler effektiver Feldtheorie systematisch verbessert und im Detail studiert werden.