Mainzer Wissenschaftlerteam gelingt Durchblick im diffusen Eis der Antarktis

Neu entdeckter optischer Effekt ermöglicht IceCube-Experiment Rückschlüsse auf Eiskristalleigenschaften

21.10.2022

PRESSEMITTEILUNG DER ICECUBE-KOLLABORATION

Seit 2010 sucht das IceCube-Neutrino-Observatorium am Südpol nach hochenergetischen Neutrinos aus dem Weltall. Das Experiment besteht aus 5.160 optischen Sensoren, den sogenannten digitalen optischen Modulen (DOMs), die bis zu 2,5 Kilometer tief in einem Kubikkilometer antarktischen Eises versenkt sind. Wenn ein Neutrino mit einem Molekül im Eis wechselwirkt, entsteht charakteristisches blaues Cherenkov-Licht. Dieses wandert durch das Eis und kann einige der DOMs erreichen, wo es nachgewiesen wird. Die Forschenden können dann die Energie und Richtung des ursprünglichen Neutrinos rekonstruieren – ein Prozess, der auf der Kenntnis der optischen Eigenschaften des Eises beruht. Im Jahr 2013 meldete die IceCube-Kollaboration eine einzigartige Beobachtung, bei der die Helligkeit einer Lichtquelle im Eis von der Richtung des Lichts abhängt, aus der es beobachtet wird. Bislang haben Forscher versucht, diese sogenannte Anisotropie mit Variationen der durch Verunreinigungen verursachten Absorption und Streuung zu beschreiben, allerdings bislang nur mit begrenztem Erfolg.

In einer aktuellen Studie, die in der Zeitschrift The Cryosphere Discussions erschienen ist, berichtet die IceCube-Kollaboration erstmals über einen neuen optischen Effekt. Er ist das Ergebnis der doppelbrechenden Eigenschaften der länglichen Eiskristalle. Die neu gewonnenen Erkenntnisse sind in ein neues, auf Doppelbrechung basierendes optisches Modell des Eises eingeflossen, das die Interpretation der Lichtmuster, die sich aus den Teilchenwechselwirkungen im Eis ergeben, erheblich verbessert hat.

Um frühere Versuche, die Anisotropie zu simulieren, zu verbessern, untersuchten die Forscher den Anisotropieeffekt genauer. Ihre Ergebnisse veranlassten sie zu der Annahme, dass die vielen zufällig angeordneten kleinen Kristalle, aus denen das Eis besteht, und nicht nur enthaltene Verunreinigungen bei der beobachteten Anisotropie eine Rolle spielen.

"Dann erkannten wir, dass wir bei Annahme gekrümmter Lichtbahnen mit winzigen Ablenkungen von weniger als einem Grad pro Meter die IceCube-Daten plötzlich genau beschreiben können. Dies brachte die Dinge erst richtig ins Rollen", sagt Dr. Martin Rongen, Forscher am Exzellenzcluster PRISMA+ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und federführend bei der aktuellen Analyse. "Die nächste Frage war: Wie kommt diese Krümmung zustande? Die Antwort liegt in der Mikrostruktur des Eises: Denn in der Tat ergibt sich bei der Berechnung und Simulation der Lichtstreuung durch doppelbrechendes polykristallines Eis, wie es in IceCube vorkommt und wo die Kristalle im Durchschnitt entlang der Fließrichtung des Eises gestreckt sind, eine solche Ablenkung."

Für die Studie simulierten die Forscher viele verschiedene Wege, die das Licht innerhalb des IceCube-Detektors zurücklegen könnte – und legten dabei tausende unterschiedlicher Kristallkonfiguration im Eis zugrunde. Anschließend verglichen sie die simulierten Daten mit einem großen Kalibrierungsdatensatz. Dieser umfasst Daten von 60.000 LEDs, die an allen DOMs angebracht sind und konsistente Lichtpulse in das Eis aussenden. Aus dem Vergleich konnten die Forscher auf die durchschnittliche Form und Größe der Eiskristalle in IceCube schließen.

Um diese neue Entdeckung bei der Erforschung kosmischer Neutrinos nutzen zu können, erstellte die IceCube-Kollaboration neue Simulationen und passte die derzeitigen Rekonstruktionsmethoden an. Dieses neue Verständnis wird IceCube nicht nur dabei helfen, Neutrino-Wechselwirkungen noch besser zu rekonstruieren, sondern hat auch Auswirkungen auf das Gebiet der Glaziologie.

"Mich fasziniert der Gedanke, das Eis von Grund auf zu verstehen", so Dr. Martin Rongen. "Eiskristalleigenschaften werden insbesondere untersucht, um die Mechanik des Eisflusses nachvollziehen zu können. Das wiederum ist Grundlage, um die antarktische Massenbilanz und den daraus resultierenden Anstieg des Meeresspiegels in einem sich ändernden Klima vorhersagen zu können."