Mainzer Wissenschaftler präsentiert neue Hypothese zur Entstehung der Gefäßverkalkung

Aronson-Preisträger Sucharit Bhakdi bricht mit vorherrschender Lehrmeinung zur Entstehung der Atherosklerose

02.12.2002

Die Atherosklerose oder Gefäßverkalkung mit ihren Folgen gilt als die häufigste Wohlstandserkrankung in den westlichen Industrieländern. Folgeerkrankungen sind unter anderem Herzinfarkt, Schlaganfall und Durchblutungsstörungen in den Beinen. Diese gefäßbedingten Erkrankungen stehen auf der Liste der Todesursachen ganz oben. Eine neue Hypothese zur Entstehung der Atherosklerose stellt den Sieg über diese wichtigste Zivilisationskrankheit in Aussicht, konsequentes Handeln vorausgesetzt.

Prof. Dr. Sucharit Bhakdi vom Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) hat in seinen Arbeiten zur Entstehung der Atherosklerose festgestellt, dass die Erkrankung letztlich auf nur eine Ursache zurückzuführen ist, die glücklicherweise getilgt werden kann. "Wir postulieren, dass gewebsständiges, gestrandetes LDL als Quasi-Erreger fungiert und dass enzymatisch verändertes LDL die einzig wahre Ursache des pathologischen Prozesses darstellt", erklärt Bhakdi, der in Anerkennung seiner theoretisch und für die klinische Medizin hoch bedeutsamen Untersuchungen auf dem Gebiet des Komplementsystems und der bakteriellen Toxine mit dem Aronson-Preis 2001, einem der ältesten und renommiertesten Medizin-Preise Deutschlands, ausgezeichnet wurde. Der Senat von Berlin verleiht den mit 10.000 Euro dotierten Preis zur Auszeichnung bedeutender wissenschaftlicher Leistungen auf dem Gebiet der Mikrobiologie oder der experimentellen Therapie.

Das LDL, kurz für "low density lipoprotein", gilt als das sogenannte schlechte Cholesterin und wurde bisher schon für die Lipidablagerungen in den Gefäßwänden verantwortlich gemacht und als Initiator der chronisch verlaufenden Entzündung identifiziert. Warum gewebsständiges LDL allerdings entzündungsfördernd wirkt, stellte bislang ein zentrales Rätsel der Medizin dar. Das Lipoprotein ist nämlich ein körpereigenes Molekül, das dem Transport des lebensnotwendigen Cholesterins im Körper dient.

Bhakdi stellte jetzt ein Konzept vor, das einen Bruch mit der vorherrschenden Lehrmeinung, insbesondere der Oxidationstheorie, darstellt. Nach dieser Theorie, die vor etwa zehn Jahren die wissenschaftliche Welt eroberte, sind oxidative Veränderungen dafür verantwortlich, dass LDL in ein entzündungsauslösendes Molekül verwandelt wird. Groß angelegte klinische Studien zeigten nach Darstellung von Bhakdi jedoch nur enttäuschende Ergebnisse: Koronare Herzkrankheiten wie Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz, Angina pectoris und Herzinfarkt konnten durch die Verabreichung von Antioxidantien nicht nennenswert verringert werden.

In seiner alternativen Hypothese betrachtet Bhakdi die Atherosklerose als Folge einer Überlastung des Lipid-Abtransportsystems, wobei die Überaktivierung des natürlichen Immunsystems die zentrale Rolle spielt. "Jedes LDL-Molekül birgt das krankheitsauslösende Potenzial in sich und es ist unnötig, externe Faktoren wie Oxidation oder Infektion verantwortlich zu machen", erklärt der Mediziner. Das LDL-Molekül ist eine Zusammensetzung aus mehreren tausend Molekülen Cholesterin, die zusammen mit Phospholipiden von einer Proteinhülle umgeben sind. Bei Bedarf wird LDL von den Gewebszellen aufgenommen und innerhalb der Zellen kommt es zur Freisetzung des Cholesterins. Ein körpereigenes Entsorgungssystem ist dafür verantwortlich, einen etwaigen Überschuss an unlöslichem Cholesterin wieder zu entfernen. Dieses Abräumen geht ohne nennenswerte Entzündungsreaktionen vor sich. Das Entsorgungssystem darf jedoch nicht überlastet werden. Denn dann kommt es einerseits zur Freisetzung inflammatorischer Zytokine wie IL-6, andererseits gehen Makrophagen, die sogenannten Fresszellen, zugrunde. Die Lipide werden freigesetzt und es kommt erneut zur Aktivierung von Abwehrmechanismen. Ein Teufelskreis beginnt und der Prozess geht in eine chronische Entzündung über. Schließlich findet eine Vernarbung der betroffenen Stelle statt, die mit einer Ablagerung von Kalzium-Lipid-Proteinkomplexen einhergeht, und die Gefäßverkalkung beginnt.

"Wir kehren mit unserer Hypothese zu der alten Vorstellung zurück, die den überhöhten LDL-Plasmaspiegel als Hauptursache für die Atherosklerose ansieht", führt Bhakdi aus. Die Konzentration des LDL-Cholesterins beträgt bei der Geburt eines Menschen 25 bis 30 mg/dl. Im Laufe des Lebens erhöht sie sich bei Naturvölkern nur geringfügig, doch in den westlichen Ländern steigt sie bereits in der Jugend an, um dann üblicherweise Werte von 150 bis 180 mg/dl zu erreichen. Für den Anstieg sind zwei Hauptursachen verantwortlich: Bewegungsarmut einerseits und cholesterinreiche Nahrung und Überernährung andererseits. Faktoren, die den Prozess der LDL-Strandung fördern, sind die bekannten Risikofaktoren: Bluthochdruck, Diabetes und Rauchen.

Vor diesem Hintergrund fordert Bhakdi eine rigorose Senkung des LDL-Spiegels auf Werte von maximal 100 mg/dl Cholesterin als wichtigste Therapie- und Präventionsmöglichkeit. Eine solche Senkung sei durch die Umstellung der Ernährung in Verbindung mit vermehrter körperlicher Aktivität fast immer erreichbar. Falls diese Maßnahmen nicht ausreichen, sollte die Einnahme von lipidsenkenden Medikamenten erwogen werden. Hervorragende klinische Studien hätten gezeigt, dass die Einnahme von Statinen effektiv gegen die Entwicklung von koronaren Herzkrankheiten schützt.

Sucharit Bhakdi ist 1946 in Washington D.C. geboren. Nach einem Medizinstudium in Bonn und anschließender Promotion im Jahr 1971 verbrachte er viereinhalb Jahre als Stipendiat am Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg. Die Habilitation erfolgte 1979, danach war Bhakdi als Professor für Medizinische Mikrobiologie an der Universität Gießen tätig und seit 1990 als Professor und Leiter des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Der Wissenschaftler mit thailändischer Staatsangehörigkeit hat 1997 das Thai Network for Biomedical Research zur Förderung der biomedizinischen Forschung in Thailand begründet.

Die wissenschaftliche Arbeit des Mediziners begann in Freiburg damit, den Mechanismus der Komplement-Zytolyse zu erforschen, einen Mechanismus des Immunsystems, bei dem körpereigene Proteine fremde Zellen bzw. Krankheitserreger zerstören können. Diese Arbeiten führten zur Erstbeschreibung eines membranschädigenden porenbildenden Proteins und zur Entwicklung des heute akzeptierten Porenkonzepts der Komplement-Zytolyse. Aus der Überzeugung heraus, dass ein erfolgreiches Prinzip in der Biologie niemals solitär vorkommt, begab sich der Wissenschaftler auf die Suche nach anderen porenbildenden Proteinen. Daraus resultierte 1981 die Erstbeschreibung eines porenbildenden bakteriellen Toxins (S. aureus Alpha-Toxin) und darauffolgend die Entdeckung weiterer prototypischer Porenbildner. Heute ist allgemein akzeptiert, dass die Bildung transmembranaler Poren das archetypische zellschädigende Prinzip in der Biologie darstellt. Porenbildende Peptide und Proteine werden eingesetzt im Kampf von Mikroorganismen untereinander, von Mikroorganismen gegen Insekten, von Mikroorganismen gegen Eukaryonten inklusive Parasiten gegen Wirt, von Eukaryonten gegen Mikroben und von Säugerzellen gegeneinander. Und Porenbildung wird vielleicht auch von Viren benutzt, um eukaryontische Zellen zu schädigen. Die Liste der bakteriellen Porenbildner umfasst heute mehr als 100 Vertreter. Das Gebiet hat sich in den vergangenen zehn Jahren rasch entwickelt, und seit 1991 findet alle zwei bis drei Jahre der "International Workshop on Pore-Forming Toxins" statt. Die Toxinarbeiten werden gegenwärtig in zwei zentralen Projekten des Sonderforschungsbereichs 490 "Invasion und Persistenz bei Infektionen" von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Als seinen wichtigsten wissenschaftlichen Beitrag wertet der Aronson-Preisträger 2001 jedoch seine Arbeiten über Atherosklerose, die 1998 zur Formulierung einer neuen "Mainzer Hypothese" über die Entstehung der Arterienverkalkung führten.