Körpereigene Cannabinoide lindern epileptische Krämpfe

Beitrag zur Behandlung epileptischer Erkrankungen unter Berücksichtigung der nützlichen Funktion des körpereigenen Cannabinoid-Systems

20.09.2006

Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) haben herausgefunden, wie übermäßige neuronale Gehirnaktivitäten, die zum Beispiel zu epileptischen Anfällen führen können, durch körpereigene Cannabinoide gebremst werden. Dabei spielen bestimmte Rezeptoren in den Moos-Zellen, einem speziellen Typ von Nervenzellen im Hippocampus, wahrscheinlich eine zentrale Rolle. "Damit konnten wir die relevante Gehirnregion ermitteln, in der dieser dämpfende Mechanismus über körpereigene Schutzfunktionen wirksam wird", so Prof. Dr. Beat Lutz vom Institut für Physiologische Chemie und Pathobiochemie der JGU. Die Ergebnisse der in der renommierten Fachzeitschrift Neuron publizierten Studie dürften dazu beitragen, neue Wege in der Behandlung epileptischer Erkrankungen zu beschreiten und dabei die nützliche Funktion des körpereigenen Cannabinoid-Systems stärker in den Mittelpunkt zu rücken.

In Europa leidet etwa ein Prozent der Bevölkerung unter Epilepsie. Bei dieser Erkrankung handelt es sich um eine lang anhaltende Veränderung des Gehirns, die sich in immer wieder auftretenden epileptischen Anfällen äußern kann. Die Behandlung erfolgt in der Regel medikamentös mit Antiepileptika, allerdings spricht ein Teil der Betroffenen auf die Medikamente nicht an. "Etwa 30 Prozent der Patienten sind therapieresistent, weshalb intensiv an neuen Therapiekonzepten geforscht wird", sagt Lutz.

Epilepsie kommt durch eine Übererregung von Nervenzellen in verschiedenen Gehirnregionen zustande. Wenn diese Fehlfunktion nicht gehemmt wird, können starke Schädigungen oder sogar ein Absterben der Neuronen folgen. Bereits seit einigen Jahren ist bekannt, dass der Körper über einen eigenen Schutzmechanismus gegen diese Überaktivität verfügt. Dabei können körpereigene Cannabinoide, auch Endocannabinoide genannt, zusammen mit den Cannabinoid-Bindungsstellen des Typs 1, den CB1-Rezeptoren, wichtige Schutzfunktionen vermitteln, sobald sich Neuronen im Gehirn in einem zu stark angeregten Zustand befinden: Bei Übererregung werden Endocannabinoide freigesetzt, um über die CB1-Rezeptoren beruhigend auf diese übermäßig aktivierten Neuronen zu wirken. Die Endocannabinoide stellen eine Art Dämpfer dar, um die Gehirnaktivität zu normalisieren.

Tiermodelle können hilfreich sein, um die Epilepsie besser zu verstehen und mögliche neue Therapiekonzepte vorzuschlagen. Vergleicht man in einem chemisch induzierten Krampfanfallmodell Wildtyp-Mäuse mit Mäusen, denen die CB1-Rezeptoren komplett fehlen, wird die Bedeutung dieser Rezeptoren deutlich: Ein Verlust der Rezeptoren führt zu einer stark gesteigerten Empfindlichkeit, Krampfanfälle zu entwickeln. Hierbei scheinen CB1-Rezeptoren an ganz bestimmten Schaltstellen des Gehirns eine wichtige Rolle zu spielen. Dies hat die Forschergruppe um Prof. Dr. Beat Lutz vom Institut für Physiologische Chemie und Pathobiochemie an der JGU zusammen mit kollaborierenden Gruppen in Deutschland, Großbritannien und den USA genauer untersucht.

Normalerweise besteht im Gehirn eine Balance zwischen aktivierenden und hemmenden Signalen. Diese Signale werden im Wesentlichen durch zwei Neuronentypen vermittelt, die die Neurotransmitter Glutaminsäure bzw. Gamma-Aminobuttersäure (GABA) ausschütten. Auf genau diesen beiden Neuronen kommen auch die CB1-Rezeptoren vor. Um festzustellen, wie wichtig die CB1-Rezeptoren an diesen Stellen sind, wurden verschiedene transgene Mauslinien hergestellt, denen die CB1-Rezeptoren auf den Glutaminsäure- bzw. auf den GABA-ausschüttenden Neuronen fehlen. Diese Mauslinien wurden dann bezüglich der Reaktion auf chemisch induzierte, neuronale Übererregung untersucht. Mäuse ohne CB1-Rezeptoren auf den Glutaminsäure-ausschüttenden Neuronen reagierten mit starken epileptischen Anfällen, während die Mäuse ohne CB1-Rezeptoren auf den GABA-ausschüttenden Neuronen keine Veränderungen zeigten. "Das bedeutet, dass CB1-Rezeptoren auf den sogenannten glutamatergen Neuronen in der Großhirnrinde für den Schutz des Gehirns vor Schädigungen nach epileptischen Anfällen äußerst wichtig sind", so Lutz.

Der Hippocampus, ein bestimmter Teil des Kortex, spielt eine entscheidende Rolle bei der Pathogenese der Epilepsie. Deshalb untersuchte die Forschergruppe, ob dies auch die Gehirnregion ist, in der die CB1-Rezeptoren epileptische Anfälle dämpfen können. Durch die lokale Entfernung der CB1-Rezeptoren in nur einem bestimmten Teil des Hippocampus, im Hilus, konnten wiederum verstärkte epileptische Krämpfe beobachtet werden. "Damit haben wir eine kritische Region des Gehirns identifiziert, in der die CB1-Rezeptoren bei übermäßiger neuronaler Aktivität als dämpfender Mechanismus dienen", so Lutz. Immunhistologische und elektrophysiologische Experimente konnten weiter die sogenannten Moos-Zellen, eine glutamaterge Zellpopulation im Hilus, als mögliche zentrale Stelle ausfindig machen. Diese Zellen sind in einen Schaltkreis zwischen Kortex und Hippocampus eingebunden, der bei Epilepsie wahrscheinlich stark gestört ist.

Die Befunde dieser Studie können neue Wege zur Behandlung von neurologischen Krankheiten eröffnen, die mit neuronalen Überaktivitäten einhergehen, wie sie etwa bei Temporallappenepilepsien (TLE) zu beobachten sind. Ziel zukünftiger Studien wird es sein, die Aktivität des Endocannabinoid-Systems pharmakologisch zu verstärken und somit einen erhöhten Schutz gegen Krampfanfälle zu bewirken. "Wenn diese Verstärkung nur in den dafür wichtigen Neuronen, nämlich den glutamatergen Neuronen, gelänge, wäre die Wirkung wahrscheinlich auch sehr viel effektiver und die Gefahr von Nebenwirkungen könnte verringert werden", erwarten die an der Studie beteiligten Wissenschaftler.