Studie des Psychologischen Instituts betrachtet deutsche Jugendliche im internationalen Vergleich
26.06.2006
Die gute Nachricht zuerst: Obwohl Jugendliche heute in einer komplexeren Welt aufwachsen und mit zahlreichen Stressfaktoren belastet sind, zeigt die überwiegende Mehrheit von ihnen sehr gute Bewältigungsstrategien und kann mit Stress gut und angemessen umgehen. "Deutsche Jugendliche haben bei den PISA-Studien in einzelnen Schulfächern vielleicht nicht so gut abgeschnitten wie andere Nationen, aber sie haben angesichts der hohen Anforderungen eine Vielzahl kompetenter Bewältigungsstrategien und damit auch sehr gute Ressourcen", sagt Prof. Dr. Inge Seiffge-Krenke vom Psychologischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Dieser Befund gilt allerdings nicht in gleichem Maße für Kinder von Migranten und von Alleinerziehenden, lautet die schlechte Nachricht. Seiffge-Krenke hat die Stressbelastung und Bewältigungskompetenz von deutschen Jugendlichen untersucht und die Daten mit anderen Ländern verglichen, wobei insgesamt rund 9.800 Jugendliche aus 18 Ländern befragt worden sind. Die Ergebnisse sind nun in dem Buch Nach PISA. Stress in der Schule und mit den Eltern. Bewältigungskompetenzen deutscher Jugendlicher im internationalen Vergleich erschienen.
Jugendliche gelten als eine besonders belastete Gruppe, wozu die gegenwärtigen Lebensbedingungen, die phasenspezifischen Belastungen und die Anforderungen im schulischen Bereich beitragen – Faktoren, die vermutlich auch den vergleichsweise schlechteren Gesundheitszustand von Jugendlichen mitbedingen. Zu dem schwierigen Lebensumfeld weist Seiffge-Krenke beispielhaft auf die veränderten Familienformen und die ungenügende finanzielle Absicherung von Familien hin. So haben 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Ostdeutschland bereits kurz- oder längerfristige Arbeitslosigkeit im engeren Familienkreis erlebt.
Für deutsche Jugendliche, so ergaben die Untersuchungen, ist die Schule der größte Stressfaktor. Im Ländervergleich berichteten die befragten Deutschen im Alter von zwölf bis 20 Jahren dagegen über vergleichsweise geringen Stress mit ihren Eltern. "Das wirklich Erfreuliche an unseren Ergebnissen ist aber, dass 70 bis 80 Prozent der Jugendlichen angemessene Bewältigungsstrategien zeigen, um auf Stress zu reagieren", so Seiffge-Krenke. Dies lässt erwarten, dass sie auch künftige Herausforderungen gut meistern werden – eine Fähigkeit, die über reine Schulleistungskompetenz, wie in PISA erhoben, hinausgeht.
Seiffge-Krenke unterscheidet in ihren Studien drei unterschiedliche Bewältigungsstile im Umgang mit belastenden Ereignissen, auch Stressoren genannt: problemzugewandte, lösungsorientierte Ansätze (aktives Coping), kognitiv-reflektierende Problemlösestrategien (internales Coping) und dysfunktionale Rückzugsstrategien. Aktives und internales Coping gelten als "funktional", weil sie eine dauerhafte und erfolgreiche Bewältigung der stressauslösenden Situation zum Ziel haben. Rückzug wird vor allem auf längere Sicht als ungeeignete Strategie gesehen, weil sie das Problem nicht nachhaltig löst, sondern es meidet und im schlimmsten Fall bis zur völligen Verweigerung der Jugendlichen führen kann.
Deutsche Jugendliche weisen im internationalen Vergleich hohe Werte im aktiven Coping auf, indem sie Probleme offen ansprechen oder bei anderen nach Hilfe und Unterstützung suchen. Sowohl bei Problemen mit der Schule als auch mit den Eltern wird zu 40 Prozent mit aktivem Coping reagiert. "Wenn es um Schulstress geht, haben auch Jugendliche aus der Schweiz, Hongkong, Kroatien, Pakistan, Russland und Portugal relativ hohe Werte im aktiven Coping", führt Seiffge-Krenke aus. Finnische Jugendliche fallen im Vergleich dazu durch ihre sehr hohen Werte im internalen Coping auf. Jugendliche aus Ägypten, Estland, Griechenland, Portugal, der Türkei und Südafrika zeigen recht hohe Rückzugswerte.
Familiäre Situation
Je nach familiärer Situation wird Stress auch unterschiedlich wahrgenommen. Jugendliche, die mit beiden Eltern zusammenleben, berichten über weniger Schulstress, aber auch weniger Elternstress als Jugendliche aus Ein-Eltern-Familien. Im Hinblick auf das Coping-Verhalten fielen Jugendliche aus Ein-Eltern-Familien in der Studie über Ländergrenzen hinweg durch einen etwas höheren Gebrauch von dysfunktionalen Bewältigungsstrategien auf. "In allen Kulturen zeigte sich, dass Kinder von Alleinerziehenden mehr Stress haben und ihn schlechter bewältigen können", so die Autorin der Studie. Dasselbe gilt für Kinder aus Migrantenfamilien, wo die Jugendlichen extrem hohe Stresswerte haben und sehr schlechte Bewältigungsstrategien: "Das gilt für Deutschland, aber auch für alle anderen Länder in der ganzen Welt", sagt Seiffge-Krenke. Inzwischen liegen Daten von 12.000 Jugendlichen vor. Die Auswertungen bezüglich des Migrantenstatus zeigen, dass beispielsweise in Deutschland mehr Migranten-Jugendliche leben als in Hongkong und dass sie sehr viel schlechter mit Stress umgehen können als Gleichaltrige mit Migrantenstatus in Hongkong.
Die beiden Risikogruppen Jugendliche aus Ein-Eltern-Familien und Jugendliche mit Migrantenstatus bräuchten nach Auffassung von Seiffge-Krenke sachkundige Unterstützung. Aber auch Lehrern müsste geholfen werden, die zunehmend unter der zusätzlichen Last durch erzieherische Aufgaben und anderen belastenden Faktoren leiden, was sich unter anderem im schlechten Gesundheitsstatus von Lehrern und ihrer hohen Frühberentungsquote ausdrückt. Das Buch belegt auf vielfache Weise sowohl für Lehrer als auch Schüler den engen Zusammenhang zwischen Stress und Gesundheitsproblemen, weist auf die Kosten einer starken Leistungsorientierung hin und zeigt Lösungswege auf, angefangen bei Präventions- und Interventionsansätzen wie Stressbewältigungsprogrammen für Lehrer und Schüler bis zur Supervision für Lehrkräfte, schulpsychologische Beratung und Therapie von Schulangst und Schulverweigerung.