Erkundung des russischen Imperiums

Volkswagenstiftung unterstützt neues Forschungsprojekt an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

23.10.2006

An der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) ist ein neues internationales Projekt zur Erforschung des Russischen Imperiums angesiedelt, das gemeinsam von Osteuropahistorikern aus Mainz und dem Centre for Studies of Nationalism and Empire in Kazan und St. Petersburg durchgeführt wird. Die VolkswagenStiftung unterstützt das Projekt in den kommenden zwei Jahren mit 172.000 Euro. "Wir freuen uns über diese bedeutende Förderung durch die VolkswagenStiftung. Dies zeigt auch, wie wichtig das Verständnis der neuzeitlichen Imperien gerade in der jetzigen Situation der europäischen Integration ist", so Prof. Dr. Jan Kusber vom Historischen Seminar der JGU, Leiter der Forschungsgruppe. Die VolkswagenStiftung fördert das Projekt im Rahmen ihrer auslandsorientierten Initiative zum Thema "Einheit in der Vielfalt? Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas".

Das Russische Imperium bestand vom Anfang des 18. Jahrhunderts bis zur Russischen Revolution 1917, dem Ende der Zarenherrschaft, und umfasste während seiner größten Ausdehnung ein Herrschaftsgebiet von Finnland über Eurasien bis nach Alaska. "Gerade in der gegenwärtigen Situation der Europäischen Union, in der nach der Definition und Integrationskraft Europas ebenso gefragt wird wie nach der Überforderung der Europäischen Union, ist die Beschäftigung mit Imperien und ihren Ausprägungen von besonderem Interesse", erläutert Kusber den Hintergrund des Forschungsprojekts. In gewissem Sinne ist die Welt in eine postnationale Epoche eingetreten: Nationale Kriege und Konflikte werden – ungeachtet der Tatsache, dass es sie immer noch gibt – vor allem als ein Phänomen aufgefasst, das das 20. Jahrhundert dominierte. Die ost- und ostmitteleuropäischen Länder, die sich vor nicht allzu langer Zeit von der Sowjetunion, vom "Reich des Bösen" losgesagt und ihre Selbstständigkeit wiedererlangt haben, opfern nun bewusst Teile ihrer Souveränität für den Aufbau eines übernationalen, allgemein europäischen Projektes. Indessen versuchen die USA und Russland – jeder auf seine eigene Weise – eine supranationale imperiale Politik durchzusetzen. Aber auch die ökonomische und kulturelle Globalisierung führt zu einer Relativierung des Begriffs national. Im Gegensatz zum Nationalstaat mit seinen Selbstdarstellungen und der historischen Aufarbeitung hinterließen die neuzeitlichen Imperien jedoch keine Lehre ihrer Staatsform, nicht einmal eine komplexe Selbstbeschreibung. Auch die wissenschaftliche Reflexion mündete in eine eher kritische Forschungsposition oder vernachlässigte die Imperien weitgehend.

An dieser Stelle knüpft das von der VolkswagenStiftung geförderte internationale Forschungsprojekt "Sprachen der Selbstbeschreibung und Selbstrepräsentation im Imperialen Russland" an. Es will seinen Fokus auf die imperialen Akteure und Akteursgruppen richten und so das Russländische Reich aufspüren und Zusammenhänge der imperialen Gesellschaft erklären. "Wir wollen im Hinblick auf die ausgehende Zarenzeit des russischen Imperiums herausfinden, wie bestimmte soziale oder nationale Akteure sich selbst verstehen", so Kusber. Beispielsweise wird eines der insgesamt sieben Teilprojekte die bedeutende Funktion Sibiriens für das Selbstverständnis als Imperium untersuchen. Dazu werden bereits bekannte und weitgehend unbekannte Reiseberichte europäischer, amerikanischer und russischer Autoren im ausgehenden Zarenreich und der frühen Sowjetunion bis zum Beginn der Industrialisierung miteinander verglichen. Dieser Außenperspektive wird in einem weiteren Schritt die Wahrnehmung Sibiriens durch die lokale Elite gegenübergestellt.

Andere Teilprojekte – fünf davon werden durch Wissenschaftler aus Kazan beziehungsweise St. Petersburg bearbeitet – befassen sich mit dem "social engineering" auf dem Land, indigenen Völkern, der Kategorie der Angestellten und der Wahrnehmung des Zarenreichs in Polen. Ziel des Forschungsvorhabens ist es, die Funktionsmechanismen von supranationalen Gesellschaften herauszuarbeiten. Diese Verfahren sollen ferner die politischen, sozialen und kulturellen Praktiken offenlegen, die lange Zeit hindurch den neuzeitlichen Vielvölkerreichen beziehungsweise später den diese Imperien ablösenden multinationalen Staaten eine gewisse Stabilität verliehen haben und auch heute noch von Interesse sind.