XENON1T setzt neue Grenzen für WIMPs / Mainzer Wissenschaftler zählt zu Gründungsmitgliedern des XENON-Programms zur Suche nach Dunkler Materie
29.05.2018
Kosmologische Beobachtungen legen nahe, dass das Universum zum großen Teil aus Dunkler Materie besteht. Was diese Materie ausmacht, ist allerdings bislang vollkommen unbekannt. WIMPs (weakly interacting massive particles) sind sehr gute Kandidaten dafür und werden von vielen Theorien vorhergesagt. Der weltweit größte und empfindlichste Detektor, XENON1T, verwendet kaltes, flüssiges Xenon zur direkten Suche nach Dunkler Materie in Form von WIMPs. Die Forscher der internationalen XENON-Kollaboration haben nun die Ergebnisse einer einzigartigen Suchkampagne präsentiert, mit der sie tief in den erwarteten Bereich vordringen konnten. Die Messungen laufen weiter und im nächsten Jahr soll eine größere Version des Detektors in Betrieb gehen.
WIMPs sind aussichtsreiche Kandidaten für Dunkle Materie, nach denen eine intensive Suche mit verschiedenartigen Experimenten läuft. Obwohl geschätzt eine Milliarde WIMPs pro Sekunde durch jeden Quadratmeter der Erdoberfläche fliegen, sind sie äußerst schwer nachzuweisen. Die Empfindlichkeit von Dunkle-Materie-Detektoren wie XENON1T steigt mit der Detektormasse, der Messzeit sowie der erreichten Unterdrückung von radioaktiver Hintergrundstrahlung. Der umfangreiche Datensatz von 1 Tonne × Jahr stimmt mit der Erwartung für den Hintergrund überein und setzt damit die stärkste Grenze für Spin-unabhängige Wechselwirkung von WIMPs mit normaler Materie für eine WIMP-Masse von mehr als 6 GeV/c². Diese Ergebnisse zeigen, dass WIMPs – falls sie tatsächlich das Dunkle-Materie-Teilchen sind – ein derart seltenes Signal erzeugen, dass selbst der größte und empfindlichste bisher gebaute Detektor es nicht nachweisen kann.
Die Empfindlichkeit von XENON1T ist um rund vier Größenordnungen besser als die von XENON10, dem ersten Detektor des XENON-Projekts, der ab 2005 im Gran-Sasso-Untergrundlabor (LNGS) in Italien in Betrieb war. Durch kontinuierliches Steigern der für die Suche verwendeten Masse flüssigen Xenons von anfänglichen 5 Kilogramm auf aktuell 1.300 Kilogramm und gleichzeitiges Reduzieren der Hintergrundsignale um den Faktor 5.000 gelang es der XENON-Kollaboration, die weltweite Suche nach Dunkler Materie jahrelang anzuführen und immer tiefer in den vorhergesagten Parameterbereich für WIMPs vorzudringen.
XENON1T besteht aus einem zylindrischen Isoliergefäß von etwas über einem Meter Höhe und Durchmesser, gefüllt mit –95 °C kaltem, flüssigem Xenon, dessen Dichte dreimal so groß ist wie die von Wasser. Darin würde sich die Wechselwirkung eines WIMPs mit einem Xenon-Atom durch ein schwaches Lichtsignal und einige freigesetzte Elektronen, die ihrerseits leicht verzögerte Lichtsignale erzeugen, bemerkbar machen. Hochempfindliche Lichtsensoren registrieren beide Signale. Daraus können die Wissenschaftler den genauen Ort und die freigesetzte Energie jedes einzelnen Ereignisses ableiten. Der Detektor wird daher als Zeit-Projektionskammer bezeichnet.
Die größte Herausforderung bei der Entwicklung dieses einzigartigen Detektors für die Suche nach seltenen WIMP-Signalen war die Reduktion des dramatisch größeren Hintergrunds, verursacht von natürlicher Radioaktivität und kosmischer Strahlung. Aktuell ist XENON1T das größte Dunkle-Materie-Experiment mit dem niedrigsten je erreichten Hintergrund im für die WIMP-Suche interessanten Energiebereich: Pro Tag werden in den inneren 1.300 der insgesamt 2.000 Kilogramm Xenon gerade einmal zwei Hintergrundereignisse nachgewiesen, die durch die spezielle XENON-Technologie von WIMP-Signalen unterschieden werden können. Die jetzt bei Physical Review Letters eingereichten Resultate basieren auf 279 Tagen Messung, was einem Datensatz von genau 1 Tonne × Jahr entspricht. Das ist die erste WIMP-Suche dieses Umfangs mit flüssigem Edelgas.
XENON1T sammelt weiter Daten, bis die derzeit in Vorbereitung befindliche größere Version des Detektors einsatzbereit ist, für die die meisten Komponenten schon ausgelegt sind. Mit dreimal mehr Xenon in der Zeit-Projektionskammer und zehnmal geringerer Hintergrundrate wird XENONnT ab 2019 eine neue Phase der Suche nach Dunkle-Materie-Teilchen starten – und dabei eine Empfindlichkeit erreichen, die zu Projektbeginn 2002 unvorstellbar schien.
Die internationale XENON-Kollaboration besteht aus mehr als 165 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von 27 Institutionen. Aus Deutschland sind das Max-Planck-Institut für Kernphysik (MPIK) in Heidelberg, die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und die Westfälische Wilhelms-Universität Münster beteiligt. Gefördert wird das Projekt von der MPG, dem BMBF und der DFG.
Prof. Dr. Uwe Oberlack von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zählt zu den Gründungsmitgliedern des XENON-Programms zur Suche nach Dunkler Materie. Bevor der Physiker 2010 an die JGU kam, war er zehn Jahre lang in den USA auf diesem Forschungsgebiet und in der Hochenergie-Astrophysik tätig. Oberlack zählt zu den weltweit anerkannten Experten in der Erforschung der Dunklen Materie. Seine Mainzer Arbeitsgruppe beteiligt sich an den XENON-Experimenten sowohl bei der Datenanalyse und den Simulationen als auch bei der Detektortechnologie. Hier sind die Mainzer Astroteilchenphysiker insbesondere für den Myon-Detektor zuständig und am Xenon-Lagersystem ReStoX sowie am inneren Detektor beteiligt. Um im nächsten Schritt mit dem XENONnT-Experiment einen weiteren Sprung in der Empfindlichkeit zu realisieren, arbeitet Oberlacks Gruppe an der Entwicklung eines Teildetektors zum Nachweis von Neutronen. Oberlacks Forschung ist auch Bestandteil des Exzellenzclusters PRISMA der JGU, das im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder gefördert wird.