Forschende kritisieren Begriff und damit geweckte Erwartungen / Neue Computermodelle erfordern auch neue Methoden für ihr Verständnis
27.11.2024
Ein digitaler Zwilling der Erde soll als ein hochpräzises Computermodell die weitere Klimaentwicklung und künftige Extremereignisse besser vorhersagen können. Dieses Ziel verfolgt die Europäische Union mit dem Projekt "Destination Earth", das 2022 als eine Komponente des Green Deal eingeführt wurde – nicht ohne auch Kritik auf sich zu ziehen. "Es gab in letzter Zeit einige hochkritische Veröffentlichungen zu dem Thema und wir schließen uns der Diskussion an", teilt Prof. Dr. Robert Reinecke von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) mit. In einem Beitrag für das Fachjournal Socio-Environmental Systems Modelling bemerken Reinecke und seine Co-Autoren, dass der Begriff "digitaler Zwilling der Erde" nicht klar definiert und irreführend sei. "Alle digitalen Darstellungen unserer Erde sind Modelle und stimmen nie völlig mit der Realität überein, so wie eine Landkarte das abgebildete Land niemals vollständig wiedergeben kann", so Reinecke. Der Wissenschaftler forscht selbst auf dem Gebiet der Erdsystemmodellierungen und hält die neuen komplexen Simulationsmodelle grundsätzlich für wichtig, um unsere Theorien über die Welt zu hinterfragen. Allerdings bedarf es auch neuer Methoden, um die Modelle zu verstehen.
EU-Initiative "Destination Earth" soll im Kampf gegen den Klimawandel helfen
"Destination Earth" ist eine Flagship-Initiative der Europäischen Kommission mit dem Ziel, schrittweise ein hochpräzises digitales Modell der Erde zu entwickeln – auch "digitaler Zwilling der Erde" genannt. Neben der Einrichtung von Europäischen Hochleistungsrechnern, wie dem Supercomputer LUMI in Finnland, setzt die EU-Kommission dabei auch auf den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Das Projekt erstellt zunächst mehrere digitale Zwillinge, die verschiedene Aspekte des Erdsystems abdecken. Bis 2030 soll dann eine vollständige digitale Nachbildung der Erde erfolgen. Die Arbeiten mit dem Modell sollen dazu beitragen, die Auswirkungen des Klimawandels und von Naturkatastrophen zu überwachen beziehungsweise vorherzusagen und Klimamaßnahmen zu unterstützen. Auch in anderen Bereichen findet der Begriff Anklang zum Beispiel als "digitaler Zwilling Deutschland" des Bundesamts für Kartographie und Geodäsie (BKG) oder "Hydro-Zwilling" für das Land Rheinland-Pfalz.
Bezeichnung "digitaler Zwilling der Erde" ist problematisch und bedarf einer Schärfung
Prof. Dr. Robert Reinecke und seine beiden Co-Autoren, Prof. Dr. Francesca Pianosi von der University of Bristol in Großbritannien und Alexander von Humboldt-Professor Dr. Thorsten Wagener von der Universität Potsdam, halten den Begriff "digitaler Zwilling der Erde" jedoch für problematisch. "Er suggeriert, dass wir eine digitale Darstellung erzeugen könnten, die es uns ermöglicht, die strukturellen Eigenschaften des Erdsystems mit einem beliebigen Grad an Genauigkeit und Präzision zu testen", schreiben sie in ihrem Beitrag für Socio-Environmental Systems Modelling. Dem ist jedoch keineswegs so: Jedes Modell ist eine Vereinfachung der Realität und unweigerlich mit Unsicherheiten behaftet. "Wir raten daher davon ab, den Begriff 'digitaler Zwilling der Erde' zu verwenden", so Reinecke.
Methodenentwicklung weiter vorantreiben
Als Erdsystemwissenschaftler arbeitet Reinecke mit seiner Arbeitsgruppe am Geographischen Institut der JGU auch mit Modellen, die die gesamte Erde umfassen, und versteht die Motivation für die EU-Initiative. Simulationsmodelle sind grundsätzlich ein hervorragendes digitales Labor für Untersuchungen, die in der realen Welt gar nicht durchgeführt werden können. Aber nach Einschätzung von Reinecke bringen immer mehr hochaufgelöste Modelle nicht unbedingt auch mehr Erkenntnisse. Außerdem erfordern die neuen komplexen Modelle neue Methoden, um sie zu verstehen. Für das Verständnis, wie ein Modell genau funktioniert, welche Einflüsse eine Rolle spielen, ob sich zum Beispiel bestimmte Eingangsdaten besonders auswirken, werden die Modelle normalerweise immer und immer wieder durchgespielt. "Für die neuen Modelle müssen wir nach neuen Methoden suchen", so Reinecke. "Dazu haben wir erste Ideen skizziert und daran arbeiten wir in meiner Arbeitsgruppe auch in Zukunft."
Am Ende bleibt noch die Frage, ob ein digitaler Zwilling der Erde auch ein Risiko darstellen könnte, insofern als die damit verbundene "reduktionistische Sicht der Natur als Maschine" demokratische Grundsätze aushöhlen könnte. Die drei Autoren verweisen in diesem Zusammenhang auf die Geschichte vom Kartenmacher, der eine perfekte Karte erstellen sollte. "Eine solche Karte ist unmöglich, genauso unmöglich wie eine perfekte digitale Darstellung der Realität. Sowohl Forschende als auch Entscheidungsträger sollten nicht auf diesen Trugschluss hereinfallen", heißt es im Beitrag für Socio-Environmental Systems Modelling.