Internationales Forscherteam legt lückenlose Berechnung der Frühlingstemperaturen in Osteuropa seit dem Mittelalter vor

Wissenschaftler untersuchen Baumjahrringe als Zeugen von Klima- und Kulturgeschichte

15.01.2013

In den vergangenen 1.000 Jahren gingen Kälteperioden in Osteuropa mit schwierigen Zeiten für die Menschen einher. Heute ist es in dieser Region warm wie noch nie. Das sind zwei Ergebnisse der dendrochronologischen Untersuchung eines internationalen Forscherteams unter der Leitung von PD Dr. Ulf Büntgen von der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL und von der Universität Bern. Die Wissenschaftler, darunter Prof. Dr. Jan Esper vom Geographischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), haben erstmals die Frühlingstemperaturen in Osteuropa seit dem Mittelalter lückenlos berechnet. Ihre Studie ist soeben in der renommierten Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences, USA veröffentlicht worden.

Anhand von 545 absolut datierten Holzproben lebender und historischer Lärchen (Larix decidua Mill.) aus den nördlichen Karpaten in der Slowakei konnten die jährlichen Temperaturschwankungen zwischen Mai und Juni bis ins Jahr 1040 n.Chr. rekonstruiert werden. Die aus dem Tatra-Gebirge stammenden Jahrringdaten spiegeln die Klimageschichte in Osteuropa und speziell im Baltikum wider. Die Jahrringe beschreiben mehrere kalte Phasen zwischen ca. 1150 und 1400 sowie im 19. Jahrhundert. Milde Frühlinge wurden hingegen in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts sowie von ca. 1400-1780 berechnet. Die Klimaerwärmung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist im Vergleich zum gesamten letzten Jahrtausend einmalig.

Neben dem Aufbau einer Temperaturgeschichte basieren auf Baumjahrringen hat das Forscherteam um Büntgen klimatische Epochen mit kulturgeschichtlichen Ereignissen verglichen. Pestausbrüche, politische Unruhen, Migrationswellen und kriegerische Konflikte stimmen oft mit vergangenen Kältephasen überein. Auch Veränderungen der Siedlungsaktivität zeigen Zusammenhänge mit Klimaschwankungen. Der sog. Schwarze Tod in der Mitte des 14. Jahrhunderts, der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) und der Russlandfeldzug Napoleons 1812 sind die drei prominentesten Beispiele, in denen kulturhistorisch relevante Ereignisse mit extremen Kälteeinbrüchen in Osteuropa übereinstimmen.

Die nun erschienen Resultate bestätigen ähnliche Beobachtungen einer früheren auf Jahrringen basierenden Analyse in Mitteleuropa. Gleichzeitig warnt der Leiter beider Studien, PD Dr. Ulf Büntgen, ausdrücklich vor zu schnell getroffenen und vereinfacht dargestellten Verknüpfungen: "Die Beziehungen zwischen Klima und Geschichte sind äußerst komplex und bei Weitem noch nicht vollständig erforscht. Gleichzeitig wissen wir heute aber auch, dass in gut dokumentierten und sorgfältig analysierten Jahrringchronologien weitaus mehr Informationen enthalten sind als bisher angenommen." Weitere Daten, unabhängige Studien und interdisziplinäre Ansätze sind daher von großem Interesse, um zukünftig noch detailliertere Aussagen treffen zu können.

Die als Jahrringforschung bezeichnete Dendrochronologie (griech. dendron = Baum, chronos = Zeit, logos = Lehre) umfasst alle Teilgebiete, die Jahrringe zur Datierung verwenden. Der Begriff Dendrochronologie geht auf den amerikanischen Astronomen Andrew E. Douglass (1867-1962) zurück. Heute ist sie als Datierungsmethode in den Geowissenschaften, der Archäologie, Kunstwissenschaft und Denkmalpflege etabliert. Die Dendroökologie hingegen adressiert Fragestellungen, die sich mit der Rekonstruktion vergangener Umweltbedingungen, wie etwa dem Klima (Dendroklimatologie) beschäftigen. Die Dendroklimatologie erlaubt eine zuverlässige Einschätzung vergangener Klimaschwankungen während der Vegetationsperiode.