Kernphysiker untersuchen magische Schalen
04.04.2012
Einer Gruppe von Wissenschaftlern um Juniorprof. Dr. Wilfried Nörtershäuser ist es erstmals gelungen, die Größe der Ladungsverteilung eines Atomkerns des sehr exotischen Isotops Beryllium-12 zu vermessen. Unerwartet zeigte sich für die Forscher, dass dieser sogenannte Ladungsradius gegenüber dem Isotop Beryllium-11 ansteigt, während der Radius der Materieverteilung signifikant abnimmt. Dies widerspricht den Annahmen der Kernphysik über den Aufbau von Atomkernen. Demnach wäre nämlich auch eine Verringerung des Kernladungsradius zu erwarten gewesen. "Unsere Messungen widersprechen der Vorhersage des Schalenmodells und sind ein deutlicher Beleg dafür, dass bei Berylliumisotopen die Zahl von acht Neutronen nicht mehr magisch ist", so Andreas Krieger vom Institut für Kernchemie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Die magischen Zahlen geben an, wie viele Neutronen oder Protonen auf den Schalen im Atomkern Platz haben.
Atomkerne bestehen aus Nukleonen, den positiv geladenen Protonen und ungeladenen Neutronen. Die Zahl der Protonen legt fest, um welches Element es sich handelt. So ist ein Kern mit vier Protonen immer ein Kern des Elements Beryllium. Die Zahl der Neutronen kann variieren, wodurch sich die verschiedenen Isotope eines Elements bilden. Im Falle von Beryllium, einem Leichtmetall, ist nur das Isotop Beryllium-9 mit einer Gesamtzahl von neun Nukleonen, also vier Protonen und fünf Neutronen, stabil. Alle anderen Isotope zerfallen nach einer bestimmten Zeit. Insgesamt existieren auf der Erde etwa 500 stabile Isotope, darüber hinaus wurden etwa 2.500 radioaktive Isotope in verschiedenen "Isotopenfabriken" weltweit produziert und untersucht. Die systematische Untersuchung von Atomkernen führte zu der Entdeckung, dass Kerne mit einer bestimmten Anzahl an Protonen oder Neutronen besonders stabil sind. Dies tritt bei den als "magisch" bezeichneten Neutronen- oder Protonenzahlen 2, 8, 20, 28, 50, 82 und 126 auf.
Im Jahr 2008 hat die Gruppe um Wilfried Nörtershäuser den Kernladungsradius des Isotops Beryllium-11, also den Radius einer gedachten Kugel um den Bereich, in dem die Protonen des Kerns konzentriert sind, durch eine Präzisionsmessung mit Lasern erfolgreich gemessen. Die Wissenschaftler konnten damals zeigen, dass sich das sehr schwach gebundene 7. Neutron in Beryllium-11 im Mittel sehr weit vom restlichen Beryllium-10-Rumpfkern entfernt aufhält und ihn wie ein Heiligenschein oder Halo umgibt. Der Rumpfkern wird – im mechanischen Modell – auf eine Kreisbahn gezwungen, die dazu führt, dass seine Ladung über einen größeren Raumbereich "ausgeschmiert" wird und der Ladungsradius deshalb ansteigt.
Danach rückte der Kern des Isotops Beryllium-12 in das Interesse der Forscher. Für die Untersuchungen musste die laserspektroskopische Methode allerdings um das Tausendfache empfindlicher gemacht werden, weil das Isotop an der Isotopenfabrik ISOLDE/CERN nur mit geringer Produktionsrate erzeugt werden kann. Überdies existiert das Teilchen kürzer, als ein Lidschlag währt: Nach nur 20 Tausendstelsekunden ist die Hälfte der produzierten Beryllium-12-Kerne bereits wieder zerfallen.
Unter Einsatz eines hochpräzisen Lasersystems ist es der Nachwuchsgruppe um Juniorprof. Dr. Wilfried Nörtershäuser in Zusammenarbeit mit Kollegen vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg und von der KU Leuven jetzt gelungen, auch den Kernladungsradius dieses sehr exotischen Isotops zu bestimmen. Zur Überraschung der Forscher stellte sich heraus, dass der Kernladungsradius gegenüber dem Halo-Kern bei Beryllium-11 weiter ansteigt, obwohl die Neutronen in Beryllium-12 wesentlich stärker gebunden sind. Dies widerspricht klar der Vorhersage des Schalenmodells, wonach der Ladungsradius hätte abnehmen müssen. "Als Erklärung können wir nur annehmen, dass die Schalen nicht mehr der Reihenfolge nach besetzt werden, dass also die dritte Schale schon mit Neutronen besetzt wird, noch bevor die zweite Schale voll ist", so Nörtershäuser. Bei den Berylliumisotopen ist die Zahl von acht Neutronen offenbar nicht mehr magisch.
Die theoretischen Modellrechnungen, die am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung durchgeführt wurden, können den Verlauf der gemessenen Ladungsradien entlang der Isotopenkette sehr gut reproduzieren. Weitere Untersuchungen der Kernstruktur, die zu einem besseren Verständnis des Kernaufbaus beitragen werden, sind sowohl an ISOLDE am CERN als auch am TRIGA-Forschungsreaktor des Instituts für Kernchemie der JGU in Vorbereitung. Die Arbeiten wurden von der Helmholtz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft sowie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und der Carl-Zeiss-Stiftung gefördert.
Die Forschungen der Gruppe von Wilfried Nörtershäuser sind in das Mainzer Exzellenzcluster "Precision Physics, Fundamental Interactions and Structure of Matter" (PRISMA) integriert.