Spinnenseide ist eines der stabilsten Biomaterialien / Interdisziplinäre Studie klärt Rolle der durch die Aminosäure Methionin vermittelten Proteindynamik auf
15.10.2019
Spinnenseide besteht aus faserbildenden Proteinen, die die Spinne in einer speziellen Drüse lagert. Wenn das Tier Seide benötigt, etwa um ein Netz zu bauen, werden die Spinnenseidenproteine durch einen langen Trakt befördert, in dem sie sich infolge mechanischer und chemischer Einflüsse zur Seide zusammenlagern. Wie alle Proteine setzen sich auch die Proteine der Spinnenseide aus 20 elementaren Bausteinen, den Aminosäuren, zusammen. Die Anzahl und die Reihenfolge der Aminosäuren bestimmen die Eigenschaften des jeweiligen Proteins. So führen etwa hydrophobe Aminosäuren wie Leucin im Kern eines Proteins zu einer hohen strukturellen Stabilität. Ein hoher Anteil von Leucin wäre eigentlich auch für die extrem stabilen Spinnenseidenproteine zu erwarten gewesen. Zu ihrer Überraschung stellten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Mainz und Würzburg jedoch fest, dass im Inneren einiger Spinnenseidenproteine ein anderer Baustein, Methionin, überdurchschnittlich häufig vorkommt.
Die Seitenkette von Methionin hat bekanntermaßen eine hohe Flexibilität. "Der hohe Anteil von Methionin in dem von uns untersuchten Spinnenseidenprotein führte zu der Idee, die Dynamik dieses Proteins genauer unter die Lupe zu nehmen", erklärt Prof. Dr. Ute Hellmich von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). "In Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe von Dr. Hannes Neuweiler an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg standen uns dafür hochmoderne biophysikalische Methoden zur Verfügung."
Die Würzburger Arbeitsgruppe tauschte die Methionin-Bausteine im Inneren des Spinnenseidenproteins systematisch gegen Leucine aus, um die Faltung, Stabilität und Dynamik der Proteinvarianten mittels sogenannter PET-FCS (Photoinduced Electron Transfer Fluorescence Correlation Spectroscopy) zu vergleichen. Diese Methode wurde von Neuweiler maßgeblich mitentwickelt und sein Labor nimmt eine weltweite Führungsrolle in ihrer Anwendung bei biologischen Systemen ein. Gleichzeitig untersuchte die Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Ute Hellmich die Struktur und Dynamik der beiden Proteinvarianten mittels hochaufgelöster Kernmagnetischer Resonanzspektroskopie (NMR). "Unsere NMR-Messungen führen wir am Zentrum für Biomolekulare Magnetresonanz der Goethe-Universität Frankfurt durch – ein weiteres Beispiel für die hervorragende Zusammenarbeit, die im Rahmen des Verbunds der Rhein-Main-Universitäten möglich ist", betont Hellmich.
Methionin-Bausteine in Spinnenseidenprotein bringen Flexibilität
Erst die Kombination von PET-FCS und NMR-Spektroskopie führte die beiden Arbeitsgruppen zu der überraschenden Erkenntnis, dass es die Methioninanteile im Inneren des Spinnenseidenproteins sind, die zu einer hohen Flexibilität der Proteinstruktur führen und dass es genau diese Flexibilität ist, die das feste Zusammenlagern der einzelnen Proteine in der Spinnenseide ermöglicht. "Wir konnten zeigen, dass der Austausch von Methionin zu Leucin auf das Spinnenseidenprotein strukturell keinen Einfluss hat, beide Proteine sehen also exakt gleich aus. Erstaunlicherweise bindet das natürliche Protein, das Methionin enthält, sehr stark an andere Spinnenseidenproteine. Diese Fähigkeit zur stabilen Assoziation geht in dem anderen, von uns im Labor erzeugten Leucin enthaltenden Protein weitgehend verloren“, erläutert Benedikt Goretzki, Doktorand im Arbeitskreis Hellmich und einer der beiden Erstautoren der Studie, die in Nature Communications erschienen ist. "Wir waren wirklich überrascht, denn dies zeigt, dass es nicht allein die Form eines Proteins ist, sondern in entscheidendem Maße auch seine Flexibilität, die über die Funktion entscheidet."
"Das Protein wird durch Methionin nicht einfach nur dynamischer, sondern vermittelt eine verbesserte Funktionalität. Dadurch können sich zwei Proteine spezifisch aneinander anlagern, was sie sonst, selbst mit der gleichen Struktur, nicht könnten", ergänzt Julia Heiby, Doktorandin im Arbeitskreis Neuweiler und die andere Erstautorin der Studie.
In der Strukturbiologie gibt es die Faustformel "form follows function", die besagt, dass sich die Funktion eines Proteins aus seiner dreidimensionalen Form ergibt. "Hier zeigt sich in beeindruckender Weise, dass die Natur noch weitere Möglichkeiten hat, auf die Funktion von Proteinen einzuwirken – nämlich durch präzise Anpassung ihrer Dynamik", erklärt die Mainzer Biochemikerin Hellmich.
Die hier gewonnenen Erkenntnisse können nun genutzt werden, um die Eigenschaften von Spinnenseidenproteinen gezielt zu verändern, etwa zur Erzeugung von neuartigen hochstabilen Biomaterialien. Gleichzeitig erhoffen sich die beiden Arbeitsgruppen aber auch generelle Einblicke in die funktionelle biologische Bedeutung der Dynamik von Proteinen. "Proteindynamik ist wichtig für alle Bereiche des Lebens", so Hellmich. "Das gilt für Spinnen wie für Menschen."