Mainzer Krebsforscher entwickelt zielgerichtete epigenetische Therapie gegen aggressive Leukämieform
24.08.2016
In Leukämiezellen sind häufig Gene reaktiviert, die normalerweise eine Selbsterneuerung von Blutstammzellen vermitteln. Bei einer häufigen Form der akuten myeloischen Leukämien wird diese abnorme Aktivierung der Stammzellgene offenbar durch Veränderungen an der Verpackungsstruktur des Erbguts verursacht. Diese Veränderungen werden wiederum durch zwei spezifische Eiweiße aus der Gruppe der sogenannten Chromatin-Regulatoren hervorgerufen, von denen die Leukämiezellen abhängig sind. Zu dieser Erkenntnis ist Dr. Michael Kühn, Onkologe an der III. Medizinischen Klinik und Poliklinik als Mitglied des Universitären Centrums für Tumorerkrankungen (UCT) der Universitätsmedizin Mainz gemeinsam mit Wissenschaftlern des Memorial Sloan-Kettering Cancer Centers in New York und der Harvard Universität in Boston gelangt. Die Forscher konnten zeigen, dass die gezielte medikamentöse Inaktivierung der beiden Chromatin-Regulatoren eine Abschaltung des Stammzellprogramms und eine Rückentwicklung der Leukämiezellen zu normalen Blutzellen bewirkt. Die Forschungsergebnisse sind in der aktuellen Onlineausgabe der Fachzeitschrift Cancer Discovery veröffentlicht.
Die akute myeloische Leukämie (AML) ist eine Subgruppe der auch als Blutkrebs bezeichneten Leukämien. Bei der AML handelt es sich um eine aggressiv verlaufende Erkrankung der blutbildenden Zellen, die ohne Behandlung fast immer zum Tod der betroffenen Patienten führt. Als Behandlungsmethode hat sich eine Kombination aus verschiedenen Chemotherapeutika etabliert. In Abhängigkeit vom genetischen Subtyp und Alter des Patienten kann so jedoch nur etwa die Hälfte der AML-Patienten geheilt werden.
Aktuelle Forschungsanstrengungen zielen insbesondere darauf ab, effizientere und weniger toxische Therapien zu entwickeln. Mit dieser Zielsetzung hat auch Dr. Michael Kühn von der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) gemeinsam mit den Arbeitsgruppen um Prof. Dr. Scott Armstrong aus New York und Boston seine Studien durchgeführt. Sie knüpften dabei an die noch recht junge wissenschaftliche Erkenntnis an, dass Veränderungen der "Verpackungsstruktur" von DNA zur Entwicklung von Krebserkrankungen beitragen können. Diese chemischen Veränderungen finden insbesondere an den sogenannten Histonproteinen statt, die die DNA in allen menschlichen Zellen spulenhaft aufwickeln. Verschiedene chemische Modifikationen der Histone können dabei entweder eine Zunahme oder eine Abnahme der Aktivitäten von Genen vermitteln. DNA, die auf Histone aufgewickelt ist, bezeichnet man auch als Chromatin. Dementsprechend werden die Eiweiße, die chemische Veränderungen an den Histonen schreiben, lesen oder beseitigen, als Chromatin-Regulatoren bezeichnet.
Da diese Veränderungen nicht die DNA direkt, sondern übergeordnete regulative Strukturen betreffen, wird das Gebiet als "Epigenetik" bezeichnet. Sie fügt der Erbsubstanz DNA eine neue Informationsebene hinzu. Die medizinische Forschung strebt danach, auf Basis der Epigenetik eine möglicherweise fehlgesteuerte Aktivierung von Genen mit Medikamenten wieder aufzuheben zu können. Ein Beispiel für ein solches Forschungsprojekt stellt die Studie von Dr. Michael Kühn und seinen Kollegen dar. Sie widmet sich dem AML-Subtyp der NPM1 mutierten (NPM1mut) AML, die bei Erwachsenen unter 60 Jahren zu den häufigsten Leukämien gehört.
Es ist schon länger bekannt, dass die NPM1mut AMLs eine Aktivierung der sogenannten Homeobox (HOX)-Stammzellgene aufweisen. Die HOX-Gene spielen eine fundamentale Rolle bei den Entwicklungsprozessen von Organismen und sind insbesondere für die Selbsterneuerung von Blutstammzellen verantwortlich. Durch die Aktivierung der HOX-Gene erwerben die Leukämiezellen vermutlich eben diese Eigenschaft der Selbsterneuerung von Stammzellen. Unklar war bislang jedoch, wie es zu dieser Aktivierung kommt. Um diese Frage zu klären, manipulierten die Forscher im Labor gezielt die DNA von Leukämiezellen. Mithilfe einer relativ neuen Labormethode, der sogenannten CRISPR-Caspase 9-Technologie, gelang es ihnen, spezifische DNA-Abschnitte aus menschlichen Zellen präzise herauszuschneiden und somit die Funktion von zwei Proteinen zu analysieren, des Mixed-Lineage Leukemia (MLL)-Proteins sowie des Disruptor of telomeric silencing 1-like (DOT1L)-Proteins.
Anhand dieser Experimente konnten die Forscher zeigen, dass das Überleben der NPM1mut-Leukämiezellen von diesen zwei Eiweißen abhängig ist. Diese Eiweiße gehören zu einer Gruppe von Regulatoren, die das Chromatin und damit eine wichtige Strukturkomponente des Zellkerns regulieren. Im weiteren Forschungsprozess versuchten die Forscher mithilfe von bereits bekannten chemischen Wirkstoffen, die beiden Eiweiße gezielt auszuschalten. Bei DOT1L gelang es ihnen mittels eines direkten Hemmstoffs, der bereits bei einer anderen Leukämieform in einer ersten klinischen Studie erprobt wird. Bei MLL hingegen war eine direkte medikamentöse Hemmung nicht möglich. Daher versuchten die Forscher, die Chromatinbindung medikamentös aufzuheben und somit die Funktion des MLLs indirekt zu unterbinden.
Jedes der beiden Medikamente verminderte jeweils die Aktivität der Homeobox-Stammzellgene in den NPM1mut-Leukämiezellen. Durch die gezielte Kombination der beiden Wirkstoffe gelang es, die Gene nahezu vollständig abzuschalten. Nach der kombinierten Behandlung mit den beiden Medikamenten veränderten sich die Leukämiezellen sehr stark und ähnelten zur Überraschung der Forscher sogar wieder normalen Blutzellen.
Für die NPM1mut-Leukämien ist dies die erste molekular zielgerichtete Therapie, die in einen Schlüsselmechanismus der Leukämieentstehung eingreift. Die Arbeit der Forscher stellt eine wichtige Grundlage für klinische Studien dar, in deren Rahmen die Medikamente erstmalig bei Patienten mit NPM1mut-Leukämie zum Einsatz kommen könnten.
Forschungsfeld Tumorepigenetik
Das Feld der Tumorepigenetik ist ein relativ junges Forschungsfeld der Onkologie, das in den letzten Jahren jedoch zunehmend Beachtung gefunden hat. Obwohl in fast jeder Zelle dieselbe DNA-Sequenz vorhanden ist, sind nicht in jeder Zelle alle Gene gleichermaßen aktiv. Beispielsweise können zwei Menschen das gleiche Krebsgen haben, aber nur bei einem von ihnen wächst ein Tumor. Unter welchen Umständen welches Gen angeschaltet wird und wann es wieder verstummt, unterliegt dem Einfluss der sogenannten Epigenetik. Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass Eiweiße, die in epigenetische Prozesse eingebunden sind, in menschlichen Tumoren zu den häufigsten Mutationsträgern gehören. Viele Fachleute erwarten daher die nächsten großen Entwicklungen der Krebsforschung im Bereich der Epigenetik.