Mainz verfügt über leistungsstärkste Quelle für ultrakalte Neutronen / Weg frei für Flaggschiff-Experiment zur Lebensdauerbestimmung des Neutrons
04.05.2011
Wissenschaftler der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) haben die derzeit stärkste Quelle für ultrakalte Neutronen aufgebaut. Ultrakalte Neutronen - die Abkürzung UCN leitet sich vom englischen Begriff "ultracold neutron" ab - wurden in Mainz zum ersten Mal vor 5 Jahren erzeugt. Sie sind wesentlich langsamer als thermische Neutronen und zeichnen sich dadurch aus, dass sie in geeigneten Gefäßen gespeichert werden können. Diese Eigenschaft macht sie zu einem wichtigen Werkzeug für Experimente, mit denen Fragen zur Dominanz von Materie gegenüber Antimaterie im Universum oder zur Entstehung der leichtesten Elemente direkt nach dem Urknall erforscht werden können. "Wir haben eine neue UCN-Quelle in Betrieb genommen und das Verfahren insgesamt so verbessert, dass wir nun wesentlich mehr ultrakalte Neutronen erzeugen und speichern können als bisher und als irgendjemand sonst", erklärt Prof. Dr. Werner Heil vom Institut für Physik. Mit einer Dichte von bislang 10 UCN pro Kubikzentimeter setzen sich die Mainzer Wissenschaftler, beteiligt sind sowohl Chemiker als auch Physiker, an die Weltspitze auf diesem Forschungsgebiet.
Den Mainzern war 2006 in einer Kooperation mit der TU München erstmals die Herstellung von ultrakalten Neutronen an einem gepulsten TRIGA-Reaktor gelungen. Bei dem Verfahren werden zunächst im Forschungsreaktor TRIGA Mainz durch Kernspaltung Neutronen erzeugt. Diese Spaltneutronen haben Geschwindigkeiten bis 30.000 km/s - das ist ein Zehntel der Lichtgeschwindigkeit. Noch im Reaktor werden sie durch Wechselwirkung mit leichten Atomkernen auf eine "thermische" Geschwindigkeit von 2.200 m/s abgebremst. Dann kommt die Entwicklung der Mainzer Wissenschaftler zum Tragen: Ein Rohr von insgesamt 3 m Länge wird in den Reaktor an die Stelle des höchsten thermischen Neutronenflusses geschoben. In diesem Rohr werden die thermischen Neutronen extrem verlangsamt.
Bei der neuen UCN-Quelle im Strahlrohr D des TRIGA Mainz, die gerade die erste Heißerprobung hinter sich hat, erfolgt die Abbremsung der Neutronen in 2 Stufen: zuerst durch Wasserstoff und dann durch einen Eisblock aus Deuterium bei -270°C. "Jetzt sind die Neutronen so langsam, dass wir praktisch hinterherlaufen könnten", beschreibt Heil das Ergebnis. Mit einem Tempo von 5 m/s gleiten die UCN zum Experimentierplatz am anderen Ende des Rohrs. Damit auf dem Weg dorthin keine Neutronen verloren gehen, ist das Edelstahlrohr mit Nickel beschichtet.
Die entscheidende Maßzahl für die Wissenschaftler ist jetzt die UCN-Dichte am Experimentierort - was die Attraktivität einer Anlage zur Durchführung von Hochpräzisionsexperimenten ausmacht. "Im ersten Test haben wir 10 UCN pro Kubikzentimeter in typischen Speichervolumina von 10 l erhalten. Mit Wasserstoff als Vormoderator und geringen Veränderungen können 50 UCN pro Kubikzentimeter erhalten werden", erklären Dr. Thorsten Lauer und Dr. Yuri Sobolev, die die Anlage betreuen. Das reicht voll und ganz, um z. B. Langzeitexperimente zur Messung der Lebensdauer des Neutrons durchzuführen, und sichert den Mainzer Forschern den Spitzenplatz beim Wettlauf um die höchsten Speicherdichten, an dem sich u.a. Einrichtungen in Los Alamos, Grenoble, München und dem schweizerischen Villigen beteiligen.
Die Lebensdauer des Neutrons beträgt nach derzeitigem Stand der Wissenschaft rd. 885 Sekunden, ist jedoch wegen der schwierigen Messung nicht mit höchster Genauigkeit bekannt. Gemessen wird nach dem Prinzip "Counting the Survivors": Von der Anfangsmenge wird die Endmenge abgezogen, die nach dem Zerfall der Neutronen nach einer bestimmten Zeit noch übrig ist. Die Lebensdauermessung leidet bisher darunter, dass es zu wenige ultrakalte Neutronen gibt.
Die UCN-Forschungen in Mainz sind in das Exzellenzcluster "Precision Physics, Fundamental Interactions and Structure of Matter" (PRISMA) eingebunden, das sich derzeit in der Bundesexzellenzinitiative bewirbt. Der Aufbau der neuen UCN-Quelle erfolgte in Eigenbau durch die Werkstätten der Physik und Kernchemie auf dem Campus der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Über die letzten 3 Jahre hinweg waren mit dem UCN-Projekt 17 Diplomanden, 2 Doktoranden und 2 Postdocs befasst - ein Gebiet, das auch in Zukunft viele neue wissenschaftliche Erkenntnisse bringen wird.
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