Wilhelm Schapp und das Verstricktsein des Menschen in Geschichten

Philosophisches Seminar nimmt Wilhelm-Schapp-Forschung auf

11.01.2008

Der deutsche Philosoph und Jurist Wilhelm Schapp ist nicht nur einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt, auch in akademischen Kreisen fand sein Werk bislang wenig Beachtung. Dieser Lücke in der deutschen Philosophiegeschichte möchte sich nun das Philosophische Seminar an der Universität Mainz mit einer intensiven Wilhelm-Schapp-Forschung zuwenden. "Dass Wilhelm Schapp so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, liegt vermutlich daran, dass er nicht die Universitätslaufbahn gewählt, sondern nach seiner Dissertation in Philosophie als Anwalt und Notar gearbeitet hat", erklärt Hochschuldozentin Dr. Karen Joisten, die die neue Wilhelm-Schapp-Forschung in Mainz leitet. "Dabei sind seine philosophischen Werke und sein Ansatz, der als Geschichtenphilosophie bezeichnet wird, unvergleichlich und auch in dem dargebrachten Stil etwas ganz Besonderes. Das sollte nicht in Vergessenheit geraten."

Dr. jur. et Dr. phil. Wilhelm Schapp (1884-1965) studierte zunächst in Freiburg und Berlin Philosophie und zeitgleich Jurisprudenz. Zu seinen Lehrern gehörten u.a. Rickert, Simmel und Dilthey. Angeregt durch ein Seminar zu Husserls Logischen Untersuchungen ging er zu Husserl nach Göttingen. Er schloss sich dem Kreis der Husserlschen Schüler und damit den Initiatoren der phänomenologischen Bewegung an, die die philosophiegeschichtliche Entwicklung des 20. Jh.s über Deutschland hinaus in starkem Maße geprägt hat. Diesem Kreis, der in der Folge als "Göttinger Phänomenologenkreis" Bekanntheit erlangte, gehörten etwa Jean Héring, Hans Lipps und auch Adolf Reinach an. In Göttingen begann Schapp die Arbeit an seiner Dissertation "Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung" und setzte daneben seine juristische Ausbildung fort. 1910 erschien seine Dissertation, die bis heute zu den eindrucksvollsten Zeugnissen der jungen phänomenologischen Bewegung zählt. Schapp entschloss sich jedoch nicht für einen akademischen Werdegang, sondern arbeitete ab 1911 als Anwalt und Notar in Aurich; in Jura promovierte er 1922. In der Folgezeit beschäftigte er sich im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit hauptsächlich mit Fragen der Rechtstheorie und veröffentlichte eine zweibändige Untersuchung "Die neue Wissenschaft vom Recht" (1930, 1932). Daneben entstand in dieser Zeit auch die Schrift "Zur Metaphysik des Muttertums", die jedoch erst 1965 veröffentlicht wurde.

Nach dem 2. Weltkrieg nahm er seine phänomenologische Arbeit in veränderter Weise von Neuem auf. Daraus ging die "Geschichtenphilosophie", eine Trilogie, hervor: 1953 erschien die Schrift "In Geschichten verstrickt. Zum Sein vom Mensch und Ding"; 1959 folgte die "Philosophie der Geschichten" und 1965 "Wissen in Geschichten. Zur Metaphysik der Naturwissenschaft" (so der Titel der 2. Auflage von 1976). In dieser Trilogie entwickelt Schapp den anthropologischen Gedanken des In-Geschichten-Verstricktseins des Menschen. Die Geschichtenphilosophie ist nicht mit traditioneller Geschichtsphilosophie zu verwechseln, sondern betont das in der Tradition in Vergessenheit geratene Primat der Geschichten. Der Gedanke der Geschichtenhaftigkeit des Menschen, des Verstricktseins in Geschichten von Mensch, Leben und Welt, wird in den Vordergrund gerückt und dabei u.a. mit naturwissenschaftlichen Ansätzen der Bestimmung der menschlichen Natur und ihres Wesens konfrontiert. Schapp fordert dabei, die klassische Beziehung zwischen Geschichte bzw. Geschichten und dem Sein der Dinge neu zu bedenken und den Geschichten ihre Bedeutung rückzuerstatten.

Ziel der Mainzer Wilhelm-Schapp-Forschung ist es, Schapps Werk und Denken in seinem Facettenreichtum nicht nur auf akademischer Ebene, sondern auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Die Schapp-Forschung will zunächst den unveröffentlichten Nachlass sichten, systematisch erarbeiten und Teile herausgeben, um somit den Weg des Phänomenologen aus der Göttinger Schule Husserls bis zu seinem originären philosophischen Ansatz nachzuzeichnen. "Da Schapp seine Forschung außerhalb der Universität vorantrieb, wurden die einzelnen Stationen bisher zu Unrecht nicht beachtet", erklärt Joisten. "Auch die systematische Untersuchung der hermeneutischen Motive in Schapps Werk steht bisher noch aus."