Studierende begeben sich auf ethnografische Erkundungen in den Hinterhöfen des Wiesbadener Westends / Lehrforschungsprojekt feiert nach eineinhalb Jahren Abschluss
08.09.2021
In Wiesbaden liegt einer der am dichtesten besiedelten Stadtteile Deutschlands: das Wiesbadener Westend. Es ist der kleinste Stadtteil der hessischen Landeshauptstadt, weist aber mit 18.000 Einwohnern auf einer Fläche von weniger als einem Quadratkilometer eine ausgesprochen hohe Bevölkerungsdichte auf. Hier leben nicht nur viele Menschen auf engem Raum, sondern auch viele Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft. "Genau das macht diesen Stadtteil sehr interessant und für unser großes zweisemestriges Forschungsprojekt besonders attraktiv", sagt Dr. Jonathan Roth, Kulturanthropologe an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Er hat gemeinsam mit der bildenden Künstlerin Aline von der Assen das Masterprojekt "Urbane Nischen" geleitet. An dem Projekt waren 19 Studierende beteiligt, die sich in den Hinterhöfen des Wiesbadener Westends auf ethnografische Erkundungen begeben hatten. Die Ergebnisse der eineinhalbjährigen Forschung, ihre Beobachtungen und Recherchen, Gespräche und Dokumentationen werden sie im Rahmen der "Kulturtage Westend" sowie online präsentieren.
Das Westend zwischen Problembezirk und Trendviertel
"Willkommen im Westend – Ein internationaler Schmelztiegel der Nationen, ein Geschäftszentrum mit mehr als 60 Spezialitätenläden und zehn verschiedenen Nationalitäten bieten Wiesbadenern und Menschen aus vielen Ländern eine Heimat", so beschreibt die Stadt Wiesbaden auf ihrer Homepage das Westend, ein zentral gelegener Stadtteil mit einem Migrationsanteil von 50 Prozent, der im Zuge der Stadterweiterung um 1840 entstanden ist. Durch den Kurbetrieb erfuhr Wiesbaden damals ein kräftiges Wachstum, was Dienstleister wie Handwerker, aber auch Lehrer und Beamte zur Ansiedlung bewegte und neuen stadtnahen Wohnraum erforderlich machte. Die Architektur spiegelt das Zuhause der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen noch heute wider: Altklassizistische Bauten mit herrlichen Fassaden im äußeren, dichter Altbaubestand im inneren Westend. "Mit der Stadterweiterung waren im 19. Jahrhundert Sozialprogramme verknüpft, um eine soziale Durchmischung zu erreichen. Dies wurde vielfach versucht mit der sogenannten Blockrandbebauung aus Vorderhaus und Hinterhäusern umzusetzen. In diesen Hinterhäusern befanden sich dann einfache Wohnungen und oft auch Werkstätten", so Jonathan Roth. "Für unser Forschungsprojekt war nun die spannende Frage: Was geschieht hier heute?"
Das Projekt zur ethnografischen Erschließung des Wiesbadener Westends folgt mit diesem Ansatz einer grundlegenden Studienausrichtung: An der JGU sind die Studiengänge im Fach Kulturanthropologie/Volkskunde von einer starken Praxisausrichtung mit eigenständigen Forschungsarbeiten gekennzeichnet. Im Master bedeutet dies für die Studierenden, dass sie über zwei Semester hinweg an einem Lehrforschungsprojekt teilnehmen. Die Projekte umfassen von der Konzeption bis zur Veröffentlichung der Ergebnisse alle Schritte einer eigenständigen Studie. "Das Masterprojekt ist das Herzstück des Studiengangs, ein sehr intensives Programm, auf das wir hier in Mainz besonders stolz sind", so Roth. Prof. Dr. Michael Simon, der Leiter des Fachs Kulturanthropologie/Volkskunde, ergänzt, dass das forschende Lehren an der Mainzer Universität auf eine lange Tradition zurückblickt und ganz wesentlich zu einer hohen Qualifizierung des akademischen Nachwuchses in seinem Fach beiträgt.
Vor diesem Hintergrund gingen die Studierenden im April 2020 an die Arbeit: Sie begaben sich auf Stadtteilerkundung im Westend und insbesondere in den verschachtelten Hinterhöfen des Viertels. Sie sprachen mit Anwohnern, sammelten Dokumente über die Historie und die aktuelle Situation, werteten Daten der Archive aus, sammelten Fotos und machten selbst Bild- und Tonaufnahmen von ihren Erlebnissen. "Wir waren damals alle froh, dass wir trotz der Coronakrise mit unserer Arbeit und den Erkundungsspaziergängen starten konnten", beschreibt Karen Hubrich vom Team der Studierenden die Situation kurz nach Beginn der Pandemie. Unterstützung erhielten die studentischen Forschenden von der Stadt Wiesbaden, lokalen Institutionen, Kulturschaffenden und engagierten Bewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteils.
Hinterhöfe eröffnen Möglichkeiten für unterschiedliche Lebenswelten
Das Ergebnis ihrer Recherchen machen die Studentinnen und Studenten auf der Internetseite "Hinterhof Westend" öffentlich zugänglich. Es finden sich hier nicht nur Fotos und Textbeiträge über die vielfältigen Eindrücke und Erlebnisse, sondern auch Hörspiele und eine zwanzigteilige Podcastserie mit Stimmen aus dem Westend. Sie zeigen die große Vielfalt des Stadtviertels und die Hinterhöfe als einen wesentlichen Teil davon. "Die Hinterhöfe sind zunächst in städtebaulicher Hinsicht ein Freiraum. Daraus ergeben sich Möglichkeiten, sei es für einen Parkplatz, einen Spielplatz, Stadtgarten oder Veranstaltungsort", so Jonathan Roth. "Das Westend zeigt hier jenseits von ethnischen Kategorien eine enorme Diversität, die über die sogenannte multikulturelle Gesellschaft hinausgeht."
Dabei hat auch das Wiesbadener Westend mit Stereotypen zu kämpfen, besonders angesichts der Wohnsubstanz, die an vielen Stellen als sanierungsbedürftig gilt, der Kinderarmutsquote und der Gefahrenhotspots im Viertel. Die "Ortsentdecker" von der JGU lassen sich jedoch nicht zu einer Abwertung und ebenso wenig zu einer Romantisierung des Westends verleiten. Sie zeigen es als ungeschönten Alltagsort, an dem sich ganz unterschiedliche Lebenswelten entfalten und sich so das Bild einer vielfältigen Stadtgesellschaft ergibt. "Es ist ein Raum, der verbindet. Er ist nicht an jeder Stelle schön, aber für den Zusammenhalt ungemein wichtig", fasst Roth die Erkenntnisse des studentischen Lehrforschungsprojekts zusammen.