Forscher der Johannes Gutenberg-Universität Mainz rekonstruieren minutengenauen Verlauf von Emotionen am 11. September 2001
01.09.2010
Die Ereignisse am 11. September 2001 lösten unter der amerikanischen Bevölkerung weniger Trauer und Angst aus, sondern im Verlauf des Tages zunehmend Ärger und Wut. Dies geht aus einer Studie hervor, für die Psychologen der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) über 570.000 Texte von US-Funkmeldern analysiert haben. "Die Ergebnisse haben uns sehr überrascht", so Mitja Back und Albrecht Küfner von der Abteilung Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik der JGU mit. "Wir hatten vermutet, dass sich diese Tragödie in einer massiven Trauer- oder Angstreaktion äußert. Was wir jedoch fanden, war ein kontinuierlicher Anstieg von Ärger und Wut über die Zeit." Mithilfe automatischer Textanalysen suchten die Wissenschaftler nach Emotionswörtern wie Traurigkeit, Weinen, Kummer, Angst oder Hass, die in den Meldungen vorkamen. Die Ergebnisse der Studie hat die renommierte Fachzeitschrift Psychological Science nun online veröffentlicht.
Die Autoren Mitja Back, Albrecht Küfner und Boris Egloff konnten für ihre Studie auf Daten zurückgreifen, die am 25. November 2009 auf der Internet-Plattform WikiLeaks anonym und frei zugänglich veröffentlicht wurden. Sie decken 24 Stunden von 3 Uhr morgens bis 3 Uhr nachts des Folgetags ab und umfassen insgesamt 573.000 Datensätze mit 6,4 Millionen Wörtern, die von über 85.000 unterschiedlichen Pagern, in Deutschland auch Funkmelder oder Pieper genannt, in den USA versandt worden sind. Die Daten ergeben einen minutengenauen Verlauf des emotionalen Befindens Tausender US-Bürger.
Die Auswertung zeigt, dass die Menschen nicht in erster Linie mit Trauer auf die Terroranschläge reagierten. Es gab einige Angstausbrüche, die mit dem Einschlag der Flugzeuge in das World Trade Center und das Pentagon, dem Einsturz der Türme und den ersten Informationen über den terroristischen Hintergrund der Anschläge einhergingen - sich danach aber schnell wieder abschwächten. "Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die Medien weitere Hintergrundinformationen verbreitet haben, die die Unsicherheit und damit die Angst verringerten", erläutert Back.
Das Gefühl von Wut hingegen war von Anfang an, bereits beim Einschlag des ersten Flugzeugs in das World Trade Center, vorhanden und nahm mit den fortlaufenden Informationen über den terroristischen Hintergrund stetig zu. Am Ende des Tages war der Ausdruck von Wut und Ärger fast zehnmal so hoch wie zu Beginn. Die Studie gibt damit einen ersten Einblick, welche Ursachen zu den weitreichenden Konsequenzen führten, die der 11. September zur Folge hatte - angefangen von vermehrter Diskriminierung über die Konfrontationspolitik der Bush-Ära bis hin zur Beschneidung von Bürgerrechten. "Da Wut und Ärger Empörung und den Wunsch nach Rache hervorrufen, bekommen wir jetzt eine erste Idee davon, was in den Menschen in Amerika unmittelbar nach den Anschlägen vorgegangen ist", ergänzt Küfner.