Neuer Sonderforschungsbereich untersucht kolloidale Dispersionen in weicher Materie

Stärkung materialwissenschaftlicher Grundlagenforschung

03.12.2002

Weiche Materie, das ist unter Physikern der Sammelbegriff für so unterschiedliche Alltagssubstanzen wie Zahnpasta oder Pudding, Blut, Schmieröl oder Wandfarbe. Allen gemeinsam ist ihre Zusammensetzung aus mikroskopisch kleinen Schwebstoffpartikeln, verteilt in einer Trägerflüssigkeit. Der Fachmann spricht von kolloidalen Dispersionen. Zahl und Beweglichkeit der Partikel und vor allem die Struktur, die sie untereinander einnehmen, bestimmen die jeweiligen Materialeigenschaften. Unter der Einwirkung äußerer Kräfte können sich diese Eigenschaften aber entscheidend ändern und zu einem völlig anderen Verhalten führen. Durch elektrische und magnetische Felder lässt sich beispielsweise die Zähigkeit und Elastizität von Stoßdämpferflüssigkeiten gezielt steuern. Wandfarbe lässt sich mit dem Pinsel gut verstreichen oder mittels Spritzpistole fein versprühen. Auf der Wand aber fallen die äußeren Kräfte weg und es bildet sich ein gleichmäßiger Film ohne Tränen und Tropfen.

Die Grundlagen derartiger Eigenschaftswandlungen unter äußerer Einwirkung und der Relaxation zurück ins Gleichgewicht untersuchen seit Juli dieses Jahres Wissenschaftler verschiedener deutscher Forschungseinrichtungen, unter anderem der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), und der niederländischen Universität Utrecht in dem gemeinsamen Sonderforschungsbereich "Physik kolloidaler Dispersionen in äußeren Feldern". Was passiert mit den Dispersionen unter Laserbestrahlung? Was in einem starken Magnetfeld? Wie fließt Wandfarbe? Ist das Verhalten in kleinen Poren genauso wie in großen Behältern?

Über elf Jahre hinweg wollen die beteiligten Physiker sich mit solchen Fragen zu ihren Schwebstoffsystemen beschäftigen. Zur guten Vergleichbarkeit der Ergebnisse werden dabei Modellsubstanzen verwendet: winzige Partikel von einigen zehntausendstel Millimeter Durchmesser, gerade noch groß genug, um sie im Mikroskop zu sehen. Derartige Systeme können seit einiger Zeit auf chemischem Wege mit genau definierter Größe und Form, Ladung und Oberflächenbeschaffenheit hergestellt werden. Unter bestimmten Bedingungen lassen sie sich zu Kristallen mit faszinierenden optischen Eigenschaften ordnen, wie man es vom Perlmutt oder vom Opal her kennt. Ursache ist dabei in vielen Fällen die elektrostatische Abstoßung zwischen den geladenen Partikeln. Diese kann im Experiment über einen weiten Bereich variiert werden, indem man Ladung und Abstand der Partikel ändert oder indem man die Salzkonzentration verringert und dadurch die Wechselwirkung schwächt.

Die Details der Wechselwirkung bilden nach wie vor ein spannendes Untersuchungsgebiet, in den meisten Fällen hat sich aber eine Beschreibung durch eine abgeschirmte Coulomb-Wechselwirkung sehr gut bewährt. "Das Gleichgewichtsverhalten und die Bildung kolloidaler Kristalle sind schon recht gut verstanden. In diesem neuen Projekt interessiert vor allem, was passiert, wenn man diese fragilen Gebilde stark beansprucht", erklärt Prof. Dr. Thomas Palberg von der JGU. So können etwa Plastikkügelchen in Wasser unter Verscherung eine Lagenstruktur ausbilden, wobei in jeder einzelnen Lage eine bienenwabenartige Struktur herrscht und die Lagen im Zick-Zack übereinander hinweggleiten. Dies kann dank neuentwickelter Präparationstechniken und einigen Modifikationen der Mikroskopoptik direkt mit Videomikroskopie beobachtet werden.

Diesen Fragen soll aber nicht nur mit Experimenten, sondern auch mit theoretischen Überlegungen und Computersimulationen nachgegangen werden. So kann aus den digitalisierten Mikroskopbildern die Trajektorie einzelner Partikel berechnet werden und mit theoretischen Vorhersagen, aber auch mit Simulationen von Partikeln mit abgeschirmter Coulomb-Wechselwirkung verglichen werden. "Bei unserem Vorhaben ist es besonders wichtig, die komplizierten Verhältnisse in unseren Dispersionen von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Theorie, Experiment und Simulation arbeiten hier als gleichberechtigte Methoden aufs engste zusammen", erklärt Professor Palberg. "Jeder Standort bringt dabei seine eigene Expertise ein."

Deutschland und die Niederlande sind auf dem Gebiet der "Weichen Materie" weltweit führend. Das wertvolle Know-how ist dabei auf verschiedenste Standorte verteilt, deren Aktivitäten mit dieser Initiative gebündelt werden. Am Projekt sind Wissenschaftler der Universität Düsseldorf als Sprecherhochschule, der Universitäten Mainz, Konstanz und Utrecht, des Mainzer Max-Planck-Instituts für Polymerforschung sowie des Forschungszentrums Jülich beteiligt. Erstmals bei einem Sonderforschungsbereich erfolgt hier eine direkte Kooperation zwischen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Niederländischen Partnerorganisation "Stichting voor Fundamenteel Onderzoek der Materie" (FOM). Für die beteiligten Einrichtungen bedeutet die Einrichtung des mit etwa 1,5 Millionen Euro jährlich geförderten Sonderforschungsbereiches nicht nur eine Stärkung physikalischer Grundlagenforschung allgemein, sondern auch eine wichtige Schwerpunktsetzung im materialwissenschaftlichen Bereich.