Kleiner deutscher Familiennamenatlas dokumentiert Verbreitung des Familiennamenschatzes in Deutschland

Neuer Band gibt allgemeinverständlichen Einblick in wichtigste Ergebnisse der fast 20-jährigen Namenforschung in Freiburg und Mainz

22.02.2023

Über Jahrtausende hinweg trugen Menschen nur einen Namen. Heute ist es in fast allen Ländern Vorschrift, dass jede Person wenigstens zwei Namen trägt, einen Vor- und einen Familiennamen. Seit dem Aufkommen von Familiennamen im Mittelalter sind die geschichtlich gewachsenen Namenlandschaften in Deutschland erstaunlich stabil und mit einer großen Namenvielfalt erhalten geblieben. "Wir verzeichnen in Deutschland rund 850.000 verschiedene Familiennamen, hinzu kommen noch etwa 250.000 Namen mit Bindestrich", sagt Prof. Dr. Damaris Nübling von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Die Wissenschaftlerin forscht seit rund 20 Jahren über Familiennamen und hat zusammen mit Prof. Dr. Konrad Kunze von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg den Deutschen Familiennamenatlas in sieben Bänden herausgegeben. Das große Forschungsprojekt kommt mit dem jetzt veröffentlichten, an eine breite Leserschaft adressierten Kleinen deutschen Familiennamenatlas zum Abschluss. Dieser neue, achte Band fasst die bisherigen Ergebnisse allgemeinverständlich zusammen und ergänzt sie mit zusätzlichen Informationen – eine einzigartige Aufstellung über Entstehung und Verbreitung, Bedeutung und Gebrauch der Familiennamen.

Beinamen und daraus gebildete Familiennamen entstehen im Mittelalter

Die Entstehung unserer Familiennamen vollzog sich in einem langen Prozess, der im 9. Jahrhundert seinen Ursprung in Venedig hatte. Im deutschen Sprachraum begann die Zweinamigkeit im 12. Jahrhundert in einigen süd- und westdeutschen Städten. Im Zuge der wachsenden Einwohnerzahl sollte dadurch im Schriftverkehr eine eindeutige Identifizierung erreicht werden. Immer mehr Menschen trugen nämlich denselben Rufnamen, gleichzeitig besiedelten auch immer mehr Menschen die Städte. Beinamen wie "Giselher genannt Müller" halfen so bei der eindeutigen Unterscheidung. Durch Vererbung gingen die Beinamen schließlich in Familiennamen über.

Dass Deutschland heute eine so große Vielfalt an Familiennamen aufweist, ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Namen aus den verschiedenen Dialekten heraus entstanden sind. Noch immer finden sich regionaltypisch verteilte Familiennamen, die auf Dialektregionen zurückgehen, wie beispielsweise Schäuble im Südwesten oder Radloff im Nordosten. "Überhaupt zeigt die Verteilung der Namen eine erstaunliche Stabilität. Seitdem die Familiennamen vor über 500 Jahren aufgekommen sind, haben sich die Menschen kaum von ihrer Heimat entfernt", so Prof. Dr. Damaris Nübling, Sprachwissenschaftlerin am Deutschen Institut der JGU. Zu 85 Prozent kommen die Namen noch heute dort vor, wo sie einst entstanden sind.

Weil es im Mittelalter keine übergreifende deutsche Hochsprache, sondern nur Dialekte gab, haben Familiennamen die Sprache ihrer Entstehungszeit konserviert. Sie sind somit eine erstrangige Quelle für die Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Varietäten. Phänomene wie die Zweite Lautverschiebung (Pfeiffer/Peifer/Pieper) bilden sich heute noch präzise in den Familiennamen ab. "Familiennamen sind ein Fenster in die spätmittelalterliche Welt. Sie geben uns nicht nur Auskunft über die Sprache und ihre Entwicklung, sondern auch über Migration, Geschichte, Religion, Bräuche, Berufe, Mentalität, Hausbau- und Siedlungsformen und Geografie – so wie Fossilien uns von längst vergangenen Zeiten erzählen", erklärt die Namenforscherin.

Bestand und Verbreitung des Familiennamenbestandes eines Landes weltweit zum ersten Mal wissenschaftlich erfasst

Basis für die umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten zu den Familiennamen bilden die rund 28 Millionen Telefonanschlüsse aus dem Jahr 2005, die von der Deutschen Telekom erworben und in der Mainzer Familiennamendatenbank archiviert wurden. "Mit dieser Datenbank konnten wir ein unschätzbares Kulturerbe sichern, das sonst unwiederbringlich verloren wäre", betont Prof. Dr. Konrad Kunze. Hatten im Jahr 2005 noch 92 Prozent der Haushalte einen Festnetzanschluss bei der Deutschen Telekom, sind es heute weniger als 60 Prozent.

Dank dieser Daten entstand in zehnjähriger Kooperation der Universitäten Freiburg und Mainz der Deutsche Familiennamenatlas. In den sieben Bänden wird der Namenbestand erfasst, nach sprach- und kulturhistorischen Kriterien systematisiert und auf 2.245 Karten dokumentiert.

Mit dem nun vorliegenden achten Band, dem Kleinen deutschen Familiennamenatlas, richten sich die Herausgeber an die breite Öffentlichkeit. Er fasst in allgemeinverständlicher Weise die wichtigsten und überraschendsten Ergebnisse der ersten sieben Bände zusammen, geht aber noch weit darüber hinaus, indem er etwa ausführlich die Entstehung und den alltäglichen Gebrauch der Familiennamen darlegt sowie die wichtigsten benachbarten Namenkulturen vorstellt, die unseren Familiennamenschatz teilweise schon seit Jahrhunderten bereichern. Fast 1.000 vorwiegend farbige Karten veranschaulichen die Beispiele. Nach Darstellung der beiden Autoren Damaris Nübling und Konrad Kunze gibt es weltweit kein vergleichbares Werk. Allerdings findet das Projekt Nachfolger: Länder wie die Schweiz, Luxemburg, die Niederlande und Polen arbeiten an ähnlichen Vorhaben.

Namenforschung über zehn Jahren hinweg von DFG gefördert

Konrad Kunze, Literatur- und Sprachwissenschaftler in Freiburg, hat den Deutschen Familiennamenatlas angestoßen und ihn zusammen mit Prof. Dr. Damaris Nübling realisiert. Das Langfristvorhaben wurde von 2005 bis 2015 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert. Damaris Nübling ist seit dem Jahr 2000 Professorin für Historische Sprachwissenschaft an der JGU. 2014 erhielt sie den Konrad-Duden-Preis, seit 2015 ist sie Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz. Ihre Arbeit am Kleinen deutschen Familiennamenatlas wurde durch das Gutenberg Forschungskolleg (GFK) der JGU mit einem speziellen Stipendium ermöglicht. Ein weiteres Großprojekt, das auf der Mainzer Familiennamendatenbank aufbaut, ist das Digitale Familiennamenwörterbuch Deutschlands, das von der JGU zusammen mit der TU Darmstadt an der Mainzer Akademie erstellt wird. Dieses Langzeitprojekt wird erstmals den aktuellen Familiennamenbestand eines Landes umfassend erschließen und allen Nutzern digital zur Verfügung stellen. Es soll 2035 zum Abschluss kommen.