Neue Erkenntnisse zur Multiplen Sklerose unter Einsatz bildgebender Verfahren bei lebenden Organismen gewonnen
23.09.2010
Neue Erkenntnisse über die Multiple Sklerose (MS), eine schwere Erkrankung des Nervensystems, haben jetzt Forscher in Berlin und Mainz gewonnen. Mit Hilfe bildgebender Verfahren, mit denen es möglich ist, Prozesse im lebenden Organismus zu untersuchen, konnten Dr. Volker Siffrin und Prof. Dr. Frauke Zipp (bisher Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, MDC, Berlin-Buch, jetzt Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz) zeigen, dass fehlgeleitete Zellen des Immunsystems auch Nervenzellen direkt angreifen und schädigen und nicht nur die Isolierschicht um ihre Ausläufer (Axone).
Die Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das eigene Immunsystem das zentrale Nervensystem angreift. Zu den Folgen zählen u.a. Muskelschwäche, Gehbehinderungen, Taubheitsempfindungen oder Sehstörungen - je nachdem, welche Bereiche des Nervensystems angegriffen sind. Die Immunzellen schädigen die schützende Hülle (Myelinschicht), mit der die Nervenfasern (Axone) ummantelt sind und die normalerweise sicherstellt, dass Erregungssignale weitergeleitet werden. Weshalb die Immunzellen aus dem Ruder laufen und körpereigene Strukturen als "fremd" erachten und attackieren, ist bisher unbekannt.
Bisherige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Nervenzellen (Neuronen) schon im Frühstadium der Erkrankung erheblich geschädigt werden. "Seit der ersten Beschreibung der Erkrankung wird eine direkte Schädigung der Neuronen diskutiert", erläutert Prof. Dr. Frauke Zipp. "Obwohl viele verschiedene Theorien über mögliche zugrundeliegende Mechanismen erörtert worden sind, etwa die Schädigung der Neuronen als Folge der zerstörten Myelinschicht, versteht man bisher nicht besonders gut, wodurch die Nervenzellen Schaden leiden."
Um herauszufinden, ob Immunzellen bei der Schädigung von Nervenzellen eine Rolle spielen, untersuchten Zipp und ihre Mitarbeiter Mäuse mit einer Erkrankung, die der menschlichen Multiplen Sklerose ähnelt (experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis). Für ihre Forschungen setzten sie ein Zwei-Photonen-Mikroskop ein. Dieses Mikroskop macht es möglich, Prozesse im lebenden Organismus in Echtzeit zu erforschen. Sie konnten dabei beobachten, dass bestimmte Immunzellen (Th17-Zellen) die Nervenzellen direkt kontaktieren, ähnlich wie Nervenzellen über ihre Synapsen miteinander Verbindung aufnehmen.
Erhöhter Kalziumspiegel in den Neuronen
Die Interaktion von Th17-Immunzellen und Neuronen löste erhöhte Kalziumspiegel im Innern von Neuronen aus. Kalzium im Zellinnern ist an der Erregung von Nerven- und Muskelzellen beteiligt und führt bei lang anhaltender Erhöhung zum Zelltod. Einen erhöhten Kalziumspiegel in Nervenzellen können die Forscher in ihren Versuchen mit Mäusen zum Teil wieder normalisieren, wenn sie die Zellen mit Substanzen behandeln, die normalerweise zur Behandlung erhöhter Erregbarkeitszustände eingesetzt werden.
"Unser Einsatz von bildgebenden Verfahren, mit denen wir Vorgänge im lebenden Organismus untersuchen können, hat uns gezeigt, dass die Schäden an den Neuronen durch die Immunzellen sehr früh auftreten und dass diese Schädigungen möglicherweise auch behandelt werden können", so Zipp: "Womöglich sind die durch das Immunsystem ausgelösten erhöhten Kalziumspiegel im Zellinnern von Neuronen ein Angriffspunkt für künftige Therapien". Doch wird es noch Jahre dauern, bis klar ist, ob das ein möglicher Weg zur Behandlung der Multiplen Sklerose sein wird.