Internationales Wissenschaftlerteam mit Mainzer Beteiligung schlägt Konzept für hochintensive Gamma-Strahlenquelle am CERN vor
22.07.2020
Ein neuartiges Forschungsinstrument hat ein internationales Wissenschaftlerteam – die Gamma Factory Initiative – im Blick. Sie schlägt vor, eine Quelle von hochintensiven Gammastrahlen zu entwickeln und dazu die vorhanden Beschleunigeranlagen am CERN zu nutzen. Dazu sollen in den SPS- und LHC-Speicherringen später einmal spezielle Ionenstrahlen zirkulieren, die durch Laserlicht dazu angeregt werden, Photonen zu emittieren. In der gewählten Konstellation liegen die Photonen energetisch im Gammastrahlen-Bereich des elektromagnetischen Spektrums. Dieser ist für die Spektroskopie von Atomkernen besonders interessant. Darüber hinaus soll der Gammastrahl eine sehr hohe Intensität aufweisen, die mehrere Größenordnungen über den derzeit im Betrieb befindlichen Anlagen liegt. Eine derart konzipierte Gamma-Fabrik wird bahnbrechende Experimente in der Spektroskopie und neue Testmethoden für grundlegende Symmetrien der Natur ermöglichen, beschreiben die Forscher in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Annalen der Physik.
Im Zentrum der Gamma-Fabrik stehen besondere Ionenstrahlen – sie bestehen aus schweren Elementen wie Blei, haben aber fast alle Elektronen in der äußeren Hülle abgestreift. Normalerweise hat ein Bleiatom 82 Protonen im Kern und 82 Elektronen in der Hülle. Bleiben von diesen nur noch ein oder zwei Elektronen übrig, entstehen so genannte "Partially Stripped Ions" – kurz PSI. In einer künftigen Gamma-Fabrik zirkulieren sie in einem Hochenergie-Speicherring – wie etwa dem Super Proton Synchrotron (SPS) oder dem Large Hadron Collider (SPS) am CERN.
PSI bieten einzigartige Möglichkeiten für die Erforschung verschiedener grundlegender Fragen in der modernen Wissenschaft. Im Bereich der Atomphysik dienen sie im übertragenden Sinne als Mini-Labor, um zu untersuchen, wie sich Systeme mit wenigen Elektronen verhalten, wenn sie starken elektromagnetischen Feldern ausgesetzt sind – letztere werden im Falle von PSI von den Atomkernen selbst erzeugt.
Die Hauptidee der Gamma-Fabrik ist es nun, einen Laserstrahl frontal auf einen beschleunigten PSI-Strahl prallen zu lassen. Im "PSI-Labor" lassen sich so durch die einfallenden Photonen angeregte Zustände erzeugen, indem Elektronen auf höhere Bahnen befördert werden – ein ideales Testsystem, welches detaillierte Atom-spektroskopische Untersuchungen ermöglicht (Primärstrahlspektroskopie). Die mit dem Laserstrahl angeregten PSI emittieren ihrerseits wiederum Photonen, die in einer Vielzahl von weiteren Experimenten außerhalb des "PSI-Labors" eingesetzt werden können (Sekundärstrahlspektroskopie). Der hierbei erzeugte Strahl von Gammastrahlen weist hohe Energien bis zu 400 Megaelektronenvolt auf, das entspricht einer Wellenlänge von 3 Femtometern. Zum Vergleich: Sichtbares Licht hat eine um acht Größenordnungen kleinere Photonenenergie beziehungsweise größere Wellenlänge.
"Die Gamma-Fabrik, die wir vorschlagen, bietet uns damit gleich zwei ungemein spannende Perspektiven: Sie ist einerseits eine sehr intensive Lichtquelle, die hochenergetische Gammastrahlen mit einem ganz spezifischen Frequenzband erzeugt und gleichzeitig eine Riesenionenfalle, in der wir die im Speicherring zirkulierenden PSI spektroskopisch ganz genau unter die Lupe nehmen können", erläutert Prof. Dr. Dmitry Budker vom Exzellenzcluster PRISMA+ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und dem Helmholtz-Institut Mainz (HIM) und einer der Autoren der aktuellen Veröffentlichung. "In unserem Artikel beschreiben wir einerseits die zahlreichen Möglichkeiten, die beide Ansätze bieten. Andererseits ist es wichtig, die aktuellen und künftigen Herausforderungen zu adressieren, die mit der Etablierung einer solchen Gamma-Fabrik verbunden sind."
Beispiele für spannende physikalische Anwendungen der Primärstrahlspektroskopie sind Messungen von Atomparitäts-Verletzungseffekten in PSI – diese sind eine Folge der schwachen Wechselwirkungen zwischen den subatomaren Teilchen – sowie Messungen der Verteilung der Neutronen in den Kernen der PSI – diese Messungen würden einige der wichtigsten Forschungsaktivitäten in Mainz ergänzen. Die sekundären, hochenergetischen Gammastrahlen mit exakt kontrollierter Polarisation werden beispielsweise in Verbindung mit "festen" polarisierten Targets verwendet, um die Struktur der Atomkerne und die für die Astrophysik relevanten Kernreaktionen zu untersuchen. Die sekundären Gammastrahlen können darüber hinaus zur Erzeugung intensiver tertiärer Strahlen, beispielsweise aus Neutronen, Myonen oder Neutrinos, verwendet werden.
Für einen optimalen Betrieb der Gamma-Fabrik sind eine Reihe von technologischen Herausforderungen zu bewältigen. "So müssen wir beispielsweise lernen, ultrarelativistische PSI mittels Laserkühlung zu behandeln, um deren Energieausbreitung zu reduzieren und so einen wohldefinierten Strahl zu erhalten", erläutert Dmitry Budker. "Während die Laserkühlung von Ionen bei niedrigeren Energien beispielsweise an der GSI in Darmstadt untersucht wurde, ist sie bei solch hohen Energien wie in der Gamma-Fabrik noch nicht durchgeführt worden."
Reine Zukunftsmusik ist die Gamma-Fabrik nicht mehr, denn im Juli 2018 vollzog sie am CERN einen großen Schritt von der Idee zur Realität: Der Gamma Factory-Gruppe gelang es zusammen mit den Beschleunigerexperten des CERN, Strahlen aus Wasserstoff- und Helium-ähnlichem Bleiionen mehrere Minuten lang im SPS zirkulieren zu lassen. Der Wasserstoff-ähnliche Strahl wurde weiter in den LHC injiziert, wo er mehrere Stunden weiter zirkulierte. "Der nächste entscheidende Schritt ist das spezielle Proof-of-Principle-Experiment am SPS des CERN durchzuführen, das das gesamte Konzept der Gamma-Fabrik validieren soll", skizziert Dmitry Budker die nächste spannende Stufe. Die Gamma-Fabrik ist ein wegweisender Vorschlag, der derzeit im Rahmen des CERN-Programms "Physics Beyond Colliders" untersucht wird.