Wie Fruchtfliegen bei wechselnden Lichtverhältnissen klar sehen

Mainzer Forschungsteam entschlüsselt neuronale Schaltkreise und Mechanismen, die stabiles Sehen von Kontrasten auch bei sich schnell verändernden Lichtverhältnissen ermöglichen

09.10.2024

Wenn sich Lichtverhältnisse schnell verändern, muss das Auge in Bruchteilen von Sekunden reagieren, um weiterhin gut zu sehen. Das ist hilfreich oder sogar notwendig, wenn wir etwa durch einen Wald fahren und aus dem Schatten von Bäumen ins Sonnenlicht steuern und dann wieder in den Schatten geraten. "In solchen Situationen reicht es nicht aus, dass die Photorezeptoren im Auge adaptieren, sondern es ist ein zusätzlicher Korrekturmechanismus notwendig", erklärt Prof. Dr. Marion Silies von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Ihre Arbeitsgruppe hat in früheren Untersuchungen bereits gezeigt, dass es bei der Fruchtfliege Drosophila melanogaster einen Korrekturmechanismus gibt, der direkt hinter den Photorezeptoren einsetzt. Nun hat das Team um Silies die Algorithmen, Mechanismen und neuronalen Schaltkreise entschlüsselt, die es ermöglichen, bei sich schnell verändernden Lichtverhältnissen weiterhin stabil zu sehen. Die Arbeit wurde in Nature Communications veröffentlicht.

Abrupte Lichtveränderungen stellen Herausforderung dar

Ob wir uns selbst in unserer Umgebung bewegen oder mit unseren Augen einem Objekt folgen, das sich vom Licht in den Schatten bewegt: Unser Sehvermögen muss in vielen verschiedenen Situationen funktionieren. Das gilt für uns Menschen und ebenso für Tausende Tierarten, die sich stark visuell orientieren. Sogar in der unbelebten Welt stellen schnelle Lichtveränderungen eine Herausforderung für die Informationsverarbeitung dar, beispielsweise für kamerabasierte Navigationssysteme. Daher nutzen viele selbstfahrende Autos zusätzlich Radar- oder Lasertechnik, um den Kontrast zwischen einem Objekt und seinem Hintergrund korrekt zu erfassen. "Tieren gelingt dies ohne entsprechende Technologie. Können wir also von Tieren lernen, wie visuelle Information bei sich schnell verändernden Lichtverhältnissen stabil verarbeitet wird?", formuliert Silies die Forschungsfrage.

Theoretische und experimentelle Arbeiten wurden kombiniert

Das Facettenauge von Drosophila besteht aus 800 Einzelaugen. Hinter den Photorezeptoren wird der Kontrast zwischen einem Objekt und dem Hintergrund ermittelt, allerdings entstehen hier Unterschiede in der Kontrastberechnung, wenn sich Lichtverhältnisse, also der Hintergrund, plötzlich verändern, wenn sich etwa ein Objekt in den Schatten eines Baums bewegt. Das hätte Konsequenzen für alle nachfolgenden Schritte der visuellen Verarbeitung und würde das Objekt unterschiedlich aussehen lassen. Mithilfe der Zwei-Photonen-Mikroskopie zeigt die Studie mit Erstautor Dr. Burak Gür, an welcher Stelle im visuellen System zum ersten Mal stabile Kontraste kodiert werden. Identifiziert wurden auf diese Weise neuronale Zelltypen, die zwei Synapsen hinter den Photorezeptoren sitzen.

Diese Zelltypen reagieren jedoch sehr lokal auf visuelle Information. Damit die Helligkeit des Hintergrunds korrekt in die Kontrastberechnung einbezogen werden kann, muss diese Information sozusagen über den Raum gebündelt werden, wie Berechnungen von Co-Autorin Dr. Luisa Ramirez anhand eines Computermodells zeigen. "Wir sind also einerseits von einem theoretischen Ansatz ausgegangen, der zeigt, welcher Radius in Bildern von natürlichen Umgebungen optimal wäre, um die Hintergrundhelligkeit über einen gewissen Raum hinweg zu erfassen, und haben parallel dazu nach einer Zelle gesucht, die diese Funktion übernimmt", erklärt Prof. Dr. Marion Silies, die die Arbeitsgruppe Neuronale Schaltkreise am Institut für Entwicklungsbiologie und Neurobiologie (IDN) der JGU leitet.

Helligkeitsinformation wird vor Weitergabe gebündelt

Gefunden haben die Neurobiologinnen und Neurobiologen einen Zelltyp, der alle erforderlichen Kriterien erfüllt. Diese Zellen namens Dm12 bündeln Helligkeitssignale über einen gewissen Radius, was wiederum die Kontrastberechnung zwischen Objekt und Hintergrund bei schnell ändernden Lichtverhältnissen korrigiert. "Wir haben damit die Algorithmen, Schaltkreise und molekularen Mechanismen aufgedeckt, die das Sehen stabil machen, auch wenn sich die Helligkeit abrupt ändert", fasst Silies zusammen. Die Wissenschaftlerin hat vor 15 Jahren mit Forschungen am visuellen System von Fruchtfliegen begonnen und vermutet, dass die Helligkeitskorrektur bei Wirbeltieren bis hin zum Menschen auf ähnliche Weise verläuft, zumal die neuronalen Voraussetzungen vorhanden sind.

Die jetzt veröffentlichte Arbeit "Neural pathways and computations that achieve stable contrast processing tuned to natural scenes" wurde durch einen ERC Starting Grant von Prof. Dr. Marion Silies sowie aus Mitteln des Sonderforschungsbereichs 1080 "Molekulare und zelluläre Mechanismen der neuronalen Homöostase" und der Forschungsgruppe 5289 "RobustCircuit" unterstützt.