Internationales Forschungsteam entschlüsselt molekularen Mechanismus, der Ringelwürmern die Interpretation von Sonnen- und Mondlicht erlaubt
09.09.2022
Wie Tiere in der Lage sind, natürliche Lichtquellen zu interpretieren, um ihre Physiologie und ihr Verhalten anzupassen, ist wenig verstanden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um die Biologinnen Prof. Dr. Eva Wolf von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und dem Institut für Molekulare Biologie (IMB) und Prof. Dr. Kristin Tessmar-Raible von den Max Perutz Labs in Wien, dem Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven und der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg haben nun herausgefunden, dass ein Protein namens L-Cryptochrome (L-Cry) die biochemischen Eigenschaften besitzt, um zwischen Sonnen- und Mondlicht und sogar zwischen verschiedenen Mondphasen zu unterscheiden. Ihre in der Zeitschrift Nature Communications veröffentlichten Ergebnisse zeigen, dass L-Cry das Mondlicht interpretieren und dadurch die inneren Kalender, auch circalunare Uhren genannt, von Meeresringelwürmern synchronisieren kann, wodurch die gemeinsame sexuelle Reifung und Fortpflanzung der Tiere optimiert wird.
Viele Meeresorganismen, darunter Braunalgen, Korallen, Fische, Schildkröten und Ringelwürmer, synchronisieren ihre Fortpflanzung mit dem Mondzyklus. Bei einigen Arten, wie dem Ringelwurm Platynereis dumerilii, haben Laborexperimente gezeigt, dass das Mondlicht eine zeitliche Funktion ausübt, indem es einen inneren Mondkalender einstellt. Dadurch wird unter anderem gewährleistet, dass ein Großteil der Ringelwürmer in den Tagen nach dem Vollmond geschlechtsreif wird. "Das ist für den Arterhalt sehr wichtig, denn durch das gleichzeitige Erreichen der Geschlechtsreife wird die Chance der im Meer verteilten Tiere auf Fortpflanzung stark erhöht", erklärt Prof. Dr. Kristin Tessmar-Raible. Um das Mondlicht für ihre Zeitmessung nutzen zu können, müssen Organismen jedoch zwischen Mond- und Sonnenlicht sowie zwischen dem Licht eines Vollmonds und dem eines zu- oder abnehmenden Monds unterscheiden können. Doch wie die Tiere dies bewerkstelligen, war bisher unklar. "Wir haben nun herausgefunden, dass das lichtempfindliche Molekül L-Cry dazu in der Lage ist, zwischen verschiedenen Lichtwertigkeiten zu unterscheiden", so Tessmar-Raible. Das Molekül diene als Lichtsensor, der Lichtintensität und -dauer messen könne und die Tiere dadurch dazu bringe, ihre Entwicklung und ihr Verhalten zu synchronisieren.
Die an der Studie beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben L-Cry von der Biochemie bis zur Genetik charakterisiert. "Dadurch haben wir entdeckt, dass die Fähigkeit von L-Cry, Licht zu interpretieren, mit verschiedenen Zuständen des Moleküls korreliert", erklärt Prof. Dr. Eva Wolf. L-Cry enthalte Kofaktoren, also Nicht-Protein-Komponenten, die für seine Funktion essenziell seien. Diese Kofaktoren, sogenannte Flavin-Adenin-Dinukleotide (FAD), veränderten sich unter Lichteinfluss biochemisch. Dabei gehe das an die Dunkelheit angepasste oxidierte FAD durch Licht in einen reduzierten Zustand über. Das Mainzer Forschungsteam fand außerdem heraus, dass L-Cry-Moleküle, die natürlichem Mondlicht ausgesetzt sind, dessen sehr geringe Photonenzahl über Stunden hinweg akkumulieren, dass aber dabei immer nur höchstens die Hälfte ihrer FADs reduziert wird. Im Gegensatz dazu bewirke Sonnenlicht mit einer mehr als zehntausendfach höheren Photonenzahl eine rasche Reduktion aller FADs. Das Forschungsteam von Prof. Dr. Kristin Tessmar-Raible konnte zudem zeigen, dass L-Cry seine Lokalisation in der Zelle verändert, je nachdem, welchem Licht es ausgesetzt ist. Wie diese unterschiedliche Lokalisation zu verschiedenen Signalwegen führt, die dann die Physiologie und das Verhalten der Ringelwürmer steuern, sei eine zentrale offene Frage. Auch die Frage, wie der lichtinduzierte Transport von L-Cry zwischen Zellkern und Zytoplasma zustande komme, werde Gegenstand weiterer Untersuchungen der Forschenden sein.
Bedrohung durch künstliche nächtliche Lichtquellen
Die Entdeckung des molekularen Mechanismus könnte auch für andere biologische Uhren und lichtgesteuerte Prozesse relevant sein: "Wir denken, dass unsere Entdeckung über das monatliche Zeitmesssystem hinausgeht. Es könnte sich um einen allgemeineren Mechanismus handeln, der Organismen hilft, natürliche Lichtquellen zu interpretieren", so Wolf. Tessmar-Raible fügt hinzu: "Das ist für viele Organismen, die ihre Physiologie und ihr Verhalten durch Licht steuern, von zentraler ökologischer Relevanz. Mondlicht ist nicht nur eine schwächere Version des Sonnenlichts, sondern hat eine ganz andere zeitlich-ökologische Bedeutung für Organismen." Deshalb stellten Störungen durch künstliche nächtliche Lichtquellen eine ernsthafte Bedrohung für ganze Ökosysteme dar. Ein besseres Verständnis der Art und Weise, wie Mondlicht von Lebewesen wahrgenommen und verarbeitet werde, könne auch dazu beitragen, die negativen Auswirkungen von künstlichem Licht zu bewerten und zu begrenzen.