Von Bodybuilding zu Gedächtnistraining: Selbstoptimierung differenziert betrachten

Stipendiatinnen und Stipendiaten des Graduiertenkollegs „Ethnographien des Selbst in der Gegenwart“ legen Sammelband zum aktuellen Thema Optimierung vor

27.10.2022

Das Zeitalter der Selbstoptimierung – so wird das 21. Jahrhundert bisweilen bezeichnet. Ob Fitnessstudio, gesunde Ernährung, Schönheitsoperationen, Achtsamkeitsübungen oder Schlaf-App – das Streben nach Selbstverbesserung nimmt für viele einen festen Platz in ihrem Alltag ein. Doch das Phänomen wird häufig negativ bewertet und als neoliberaler Verbesserungszwang abgelehnt. "Diese Sichtweise ist jedoch etwas einseitig", so Kulturanthropologin Annabelle Schülein von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). "Der Ausbau der eigenen Kompetenzen kann auch als Chance verstanden werden und nicht nur individuell, sondern für die Gesellschaft insgesamt positive Effekte haben." Eine differenzierte Sicht auf das Phänomen bietet der Sammelband "Optimierung des Selbst", der kürzlich im transcript Verlag erschienen ist.

Aussehen, Verhalten oder das Dasein an sich – Tendenz zur Optimierung aller Lebensbereiche

Die Bandbreite der Phänomene, die unter dem Begriff "Selbstoptimierung" zusammengefasst werden, ist immens. Sie reicht von der Körperformung mithilfe von Fitness und Ernährung bis hin zu Praktiken der Selbstverbesserung, wie sie unter dem Stichwort Neuro-Enhancement oder Hirndoping diskutiert werden. Das Streben nach einer Optimierung von mentalen Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmalen, Gemütszuständen oder dem eigenen Verhalten spiegelt sich im Aufstieg der Psychoindustrie wider. Die Praktiken der Selbstoptimierung sind daher nicht nur körperlicher oder technischer Art, sondern umfassen auch Psychotherapien, Meditation, spirituelle Übungen oder Gedächtnistrainings. "Wir erleben einen Boom an Fachtagungen und wissenschaftlichen Publikationen sowie auch Sachbüchern für das Laienpublikum, die sich auf all diesen unterschiedlichen Gebieten mit dem Thema befassen", so Annabelle Schülein, Doktorandin im Fach Kulturanthropologie und Mitherausgeberin des Sammelbands.

Aber es gibt auch Formen der Selbstoptimierung, die bisher kaum untersucht worden sind, etwa die Nutzung von Heilsteinen und Tagebüchern oder die Einstellung von Testosteronwerten. "Wir greifen diese Themen in unserem Sammelband auf und können zeigen, dass Selbstoptimierung mehrdeutiger und komplexer ist, als die öffentliche Debatte das oft darstellt. Eine nur kritische Betrachtung halten wir daher für unangemessen." Annabelle Schülein weist darauf hin, dass die gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskussion bisher stark auf messbare Verbesserungen ausgerichtet ist, während qualitative Aspekte vernachlässigt werden. "Es geht nicht immer um eine Steigerungslogik oder die Selbstvermessung, sondern oft um ein eigenständiges oder solidarisches Leben." Wenn fachliche Kompetenz erweitert oder Stress durch Achtsamkeitsübungen reduziert wird, profitiert möglicherweise auch die Umwelt von einem intelligenteren, ausgeglicheneren Selbst, das seine optimierten Fähigkeiten für andere einsetzen kann.

Einsicht durch interdisziplinäre Perspektiven und Vielschichtigkeit

Das vielschichtige Thema kann nach Einschätzung der Autorinnen und Autoren des Sammelbands erst durch eine interdisziplinäre Perspektive umfassend und angemessen erörtert werden. Daher wird ein weiter Bogen gespannt mit Beiträgen aus der Soziologie, der Rechtswissenschaft, der Evangelischen Theologie, der Kunstwissenschaft, der empirischen Kulturwissenschaft und der neueren Literaturwissenschaft. Populäre Praktiken wie der Breitensport oder Bodybuilding werden ebenso thematisiert wie neuere Aspekte der queeren Körpertechnologien.

Der Sammelband ist aus der Tagung "Optimierung des Selbst" hervorgegangen, die im März 2021 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattgefunden hat. Die Herausgeberinnen und Herausgeber sind Stipendiatinnen und Stipendiaten des Graduiertenkollegs "Ethnographien des Selbst in der Gegenwart", das von 2018 bis 2021 durch das Gutenberg Nachwuchskolleg (GNK) der JGU gefördert wurde.