Urzustand der Meere wird mit ERC-Förderung erforscht

Geowissenschaftler Bernd Schöne an Erforschung der marinen Ökosysteme der letzten 6.000 Jahre beteiligt / ERC Synergy Grant unterstützt SEACHANGE mit 11,8 Millionen Euro

16.10.2019

Um den ursprünglichen ökologischen Zustand der Meere und ihre Veränderung durch den Einfluss des Menschen zu erforschen, erhält der Geowissenschaftler Prof. Dr. Bernd Schöne von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) zusammen mit Kooperationspartnern einen ERC Synergy Grant, eine der renommiertesten Förderungen des Europäischen Forschungsrats (ERC). Bei dem Projekt SEACHANGE soll der ökologische Zustand der Ozeane mit ihrem Reichtum an Meerestieren und ihrer Artenvielfalt bis zu dem Punkt zurückverfolgt werden, als der Mensch durch seine Eingriffe deutliche Spuren hinterließ. Dabei werden markante Übergangsphasen und Schlüsselregionen ins Auge gefasst, zum Beispiel die Ankunft der Wikinger auf Island. ERC Synergy Grants werden für anspruchsvolle Forschungsfragen vergeben, die in Kooperation von zwei bis vier Projektleitern mit sich ergänzender Expertise bearbeitet werden. An SEACHANGE sind neben der JGU zwei britische Hochschulen, die University of Exeter als Sprecherhochschule und die University of York, sowie die Universität Kopenhagen in Dänemark federführend beteiligt. Weitere Partner sind das Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz, die Curtin University und die University of Queensland in Australien sowie die Universität Bergen in Norwegen. Die Projektförderung beträgt 11,8 Millionen Euro in den kommenden sechs Jahren.

Die Weltmeere unterliegen Veränderungen, die weitgehend unbemerkt voranschreiten, weil sie außerhalb unseres Blickfeldes liegen. Der Meeresschutz ist darum bemüht, wertvolle Meeresökosysteme zu erhalten oder wiederherzustellen, die Strategien dafür basieren jedoch oft auf einem bereits stark veränderten Zustand. "Unsere Vorstellung vom ökologischen Urzustand der Meere beruht nicht auf Fakten, sondern Wunschvorstellungen. Wir wissen einfach nicht, wie marine Ökosysteme vor dem verstärkten Eingreifen des Menschen funktionierten, wie groß die Artenvielfalt und wie groß die Bestände von Fischen und anderen Meerestieren tatsächlich waren", so Prof. Dr. Bernd Schöne. "Daher wollen wir den ökologischen Urzustand der Ozeane rekonstruieren und studieren, wie sich Diversität und Nahrungsketten infolge intensivierter Nutzung mariner Ressourcen durch den Menschen verändert haben." Das Projekt konzentriert sich dabei auf Schlüsselintervalle der letzten 6.000 Jahre, in denen sich kulturelle Wandlungen ereigneten und auf Regionen, in denen es bereits vage Hinweise auf anthropogene Änderungen gibt.

Übergang von der Jäger- und Sammlerkultur zur Landbewirtschaftung im Bereich der Nordsee

Während des frühen Holozäns gründeten Jäger- und Sammlerkulturen im südlichen Skandinavien Siedlungen in Küstennähe, die sich in großem Umfang von den Erträgen ihrer Fischerei ernährten. Ein Beispiel ist die Ertebølle-Kultur, die enorme Abfallberge aus Muschel- und Schneckenschalen hinterlassen hat. Vor etwa 6.000 Jahren nahmen Ackerbau und Viehzucht und die entsprechende Ernährung zu, wobei der Fang von Fischen und Meeresfrüchten beibehalten und teilweise intensiviert wurde. "Es ist eine spannende Frage, ob die damaligen Jäger und Sammler bereits einen Einfluss auf das marine Ökosystem ausgeübt haben und welche Rolle der Übergang zu Ackerbau und Viehzucht spielte", so Schöne.

Meeresnutzung in den vergangenen 6.000 Jahren

Die vorhandenen Daten aus dem Gebiet der Nordsee deuten darauf hin, dass die Nutzung der Meere ab etwa 950 n. Chr. stark zugenommen hat, vor allem infolge der Expansion der Wikinger im Norden und des Bevölkerungswachstums und der Verstädterung im Süden. Zu sehen ist dies besonders an den Schalen- und Knochenabfällen, die auf den Orkney-Inseln entdeckt wurden. Offenbar kam es später, nämlich zwischen 1600 und 1800 n. Chr., noch einmal zu einer Intensivierung des Fischfangs, also noch vor der Industriellen Revolution und dem Fischfang in industriellem Maßstab.

Während manche Übergangsphasen durch einen graduellen Wandel gekennzeichnet sind, erlebte Island mit der Besiedlung durch die Wikinger ab 874 n. Chr. einen abrupten Wechsel. Zuvor war die Insel abgesehen von einigen christlichen Siedlern aus Irland praktisch menschenleer. "Wir haben hier einen Übergang von einem unberührten Zustand in ein von den Wikingern massiv befischtes Gebiet vor Augen", beschreibt Schöne die Ausgangslage. Welchen Einfluss dies auf die Artenvielfalt und Nahrungsketten in den isländischen Gewässern hatte, ist bislang unklar. Weitere Vorhaben erforschen die ökologischen Auswirkungen des abrupt einsetzenden kommerziellen Walfangs im Gebiet der westlichen Antarktis im Jahr 1904. Schließlich wird untersucht, ob an der Küste von Queensland bereits vor dem westlichen Einfluss eine Veränderung der Gewässer und ihrer Lebewesen durch die Aborigines zu verzeichnen war.

Mainzer Schwerpunkt: Innovative Methode zur Isotopenanalyse

Außer den Schalen- und Knochenabfällen nutzen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für ihre Untersuchungen marine Sedimente und darin enthaltene Fossilien. Die Proben werden mit paläontologischen und molekularbiologischen Methoden datiert und analysiert. Die Mainzer Arbeitsgruppe trägt dazu unter anderem mit einer neuen innovativen Methode der Isotopenanalytik bei: Die Kohlenstoff- und Stickstoffisotopen-Signatur einzelner Aminosäuren in Muschelschalen und Skelettresten anderer Tiere gibt Auskunft über die Stellung der Organismen in der Nahrungskette. Alle Daten fließen schließlich zusammen in eine Ökosystem-Modellierung ein, mit der sich klären lässt, ob der Mensch oder das Klima die Änderungen in den marinen Ökosystemen verursacht hat.

"Mangels Daten kennen wir den ökologischen Urzustand der Meere nicht. Wir wissen nicht, wie sich Fischfang, Nutzung von Schleppnetzen und Verschmutzung auf Diversität und Nahrungsketten im Ozean ausgewirkt haben und welche Rolle das Klima spielt", fasst Schöne zusammen. Die Beobachtungsreihen erstrecken sich meist nur über wenige Jahrzehnte und reichen deshalb schlichtweg nicht aus, um den ökologischen Zustand der Meere vor dem Zeitpunkt intensivierter Nutzung durch den Menschen zu erfassen. Die Partner im SEACHANGE-Projekt wollen mit ihren Forschungen ein besseres Verständnis davon erlangen, wie sich die Ozeane in der Vergangenheit entwickelt haben, um dadurch menschengemachte Veränderungen besser zu verstehen und gegebenenfalls zu korrigieren. Es handelt sich hierbei um das erste Projekt, das der Entwicklung von marinen Nahrungsketten über einen so langen Zeitraum auf den Grund geht.

ERC Synergy Grant für bahnbrechende Pionierforschung

ERC Synergy Grants sind die am höchsten dotierte ERC-Förderung mit bis zu 10 Millionen Euro, in Ausnahmefällen bis zu 14 Millionen Euro für ein Projekt mit sechsjähriger Laufzeit. Insgesamt wurden in der diesjährigen Ausschreibung 37 Vorschläge angenommen. Die Mittel werden für bahnbrechende Pionierforschung an Gruppen von zwei bis vier Wissenschaftlern und ihren Teams vergeben. Die Förderung erhalten nur Forscher, die bereits wissenschaftliche Erfolge vorweisen können. Ausschlaggebend für die Förderung des ERC ist allein die wissenschaftliche Exzellenz der Forschenden und ihres Forschungsprojekts. Die Mainzer Gruppe um Prof. Dr. Bernd Schöne erhält für ihren Anteil am Projekt "Quantifying the impact of major cultural transitions on marine ecosystem functioning and biodiversity" rund drei Millionen Euro.

Schöne hat an der Universität Göttingen Geologie und Paläontologie studiert und auf dem Gebiet der Paläoökosystemforschung promoviert. Anschließend forschte er mit einem DAAD-Stipendium über die Wiederbewaldung der Schweizer Alpen und mit einem Feodor Lynen-Forschungsstipendium in Arizona über die ökologischen Folgen der Staudämme entlang des Colorado River. Nach weiteren Stationen in Tokio mit einem Stipendium der Japan Society for the Promotion of Science und Frankfurt – hier im Rahmen des Emmy-Noether-Programms und anschließend unterstützt durch ein Heisenberg-Stipendium – wurde er im Jahr 2006 als Professor für Paläontologie an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz berufen.