Mainzer Mediziner entwickeln Konzept zur notfallmedizinischen Versorgung durch Laien
20.11.2009
Klirrende Kälte bis -84°C, permanente Dunkelheit, eine reizarme und extrem monotone Umgebung, Isolation, Leben auf engstem Raum – das Überleben in Polarstationen gleicht in vielerlei Hinsicht bemannten Langzeitmissionen im All. Bei solchen muss die Stationsbesatzung auch immer wieder verschiedene Herausforderungen und Experimente meistern, die im "normalen" Leben von Experten übernommen werden. Dazu gehört auch der Umgang mit medizinischen Fragestellungen, wie Notfälle ohne professionelle Hilfe zu managen sind. Die Antworten und gleichzeitig auch ein Konzept hierzu haben Experten der Universitätsmedizin Mainz entwickelt: Eine Gruppe um Prof. Dr. Dr. Wolf Mann, Direktor der Hals-, Nasen-, Ohren-Klinik und Poliklinik – Plastische Operationen, und Prof. Dr. Christian Werner, Direktor der Klinik für Anästhesiologie, hat damit als eine von wenigen Arbeitsgruppen aus Deutschland die Zusage zur Teilnahme am Forschungsprogramm der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) in der Polarstation Concordia erhalten. Damit ist auch eine Förderung durch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Höhe von €250.000 verbunden. Langfristiges Ziel ist es, die Ergebnisse aus der Antarktis auch in der Raumfahrt, wie bspw. bei einer Marsmission, nutzen zu können.
"In der antarktischen Isolation lebt die Besatzung der Polarstation Concordia in einem extremen Umfeld an einem der abgelegensten Orte auf unserer Erde. Während des arktischen Winters ist die Polarstation komplett von der Außenwelt abgeschnitten, ohne Chance auf Rettung", erklärt Prof. Dr. Christian Werner, Direktor der Klinik für Anästhesiologie. "Daher muss die Besatzung lernen, vollständig autark zu überleben. Insbesondere, da alles passieren kann, was sonst auch möglich ist. So z.B. auch, dass ein Crew-Mitglied reanimiert werden muss. Das Problem: Ein Krankenhaus ist nicht in der Nähe. Dann hilft der Besatzung und später den Astronauten nur eine spezielle Ausbildung, wenn kein bzw. lediglich ein limitierter Kontakt zu Medizinern hergestellt werden kann. Jemand, der nicht ausgebildet ist, könnte das gar nicht durchführen", ergänzt Dr. Matthias Schäfer, Geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie und Durchführender des Concordia-Projekts an der Universitätsmedizin Mainz.
Daher haben die Experten der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ein Trainingskonzept für das Forschungsprogramm der Europäischen Weltraumorganisation ESA entwickelt, anhand dessen medizinische Laien für Notfallsituationen ausgebildet werden können. Dieses umfasst die Erstausbildung von 6 Besatzungsmitgliedern in Mainz, bei der die dazu entwickelten modifizierten notfallmedizinischen Behandlungschecklisten überprüft werden. Zudem erfassen die beteiligten Mediziner der Klinik für Anästhesiologie der Universitätsmedizin Mainz den Wissensverlust der Teilnehmer im weiteren Ablauf des Projekts. Anschließend entwickeln sie Gegenmaßnahmen und überprüfen wiederum deren Wirksamkeit.
Bei der Erstausbildung wird die Basis für eine solche autonome notfallmedizinische Patientenversorgung während eines zweitägigen Trainings im Simulationszentrum der Universitätsmedizin Mainz gelegt. Dabei lernt ein Teil der künftigen Concordia-Besatzung modifizierte erweiterte lebensrettende Maßnahmen (ALS) sowie den Umgang mit Checklisten (ERC-Algorithmen), so zur Vorgehensweise bei Herzstillstand. Die Mainzer haben u.a. die für Notfallmediziner gültigen Regeln für Laien modifiziert und medizinische Instrumente zusammengestellt, die leichter zu handhaben sind. So erfolgt die Atemwegssicherung durch einen speziellen Tubus, der blind eingeführt wird und sich selbst positioniert und fixiert. Ebenso wird zur Reanimation ein aus Flughäfen, Bahnhöfen und öffentlichen Gebäuden bekannter Automatisierter Externer Defibrillator (AED) statt eines manuellen Defibrillators verwendet, wie ihn ausgebildete Mediziner benutzen. Die Gabe von Medikamenten oder Infusionen soll im Ernstfall mit Hilfe eines sog. intraossären Zugangs, also über eine Punktion der Knochenmarkshöhle, z. B. im oberen Teil des Schienbeins und nicht über eine Vene, erfolgen. Der Vorteil liegt in der schnelleren Anwendung sowie einer hohe Erfolgsrate bei geringem Komplikationsrisiko.
Um das erst erlernte medizinische Wissen möglichst langfristig bei den Teilnehmern zu verankern, stehen für die Ausbilder aus der Klinik für Anästhesiologie die praktischen Übungen im Simulationszentrum im Vordergrund. Während der Isolationsphase in der Concordia sind für die Besatzung insgesamt 5Testtage vorgesehen. In dieser Zeit müssen sie praktische und theoretische Tests absolvieren: Dabei gilt es, Notfallszenarien an der Simulationspuppe durchzuspielen und Multiple-choice-Fragebögen zu lösen. Zudem findet ein Auffrischungskurs für eine der beiden Testgruppen statt. Wie die Teilnehmer dabei insgesamt abschneiden und wie hoch der Wissensverlust mit und ohne Auffrischung ist, kann mittels Filmaufnahmen sowie Sensoraufzeichnungen der Simulationspuppe und des AED später ausgewertet werden.
"Die Concordia-Crew ist vielen Faktoren ausgesetzt, die medizinisch und psychologisch gesehen extrem sind und den Herausforderungen einer Langzeitmission im All sehr ähneln. So gesehen können Polarstationen helfen, künftige Langzeitmissionen im Weltraum, wie Mond- und Marsmissionen, vorzubereiten", erläutert Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. W. Mann, der Direktor der Prof. Dr. Dr. Hals-, Nasen-, Ohren-Klinik und Poliklinik – Plastische Operationen, und Leiter des Concordia-Projekts an der Universitätsmedizin Mainz.
Die Polarstation "Concordia"
In 3.250 m Höhe auf dem extrem unwirtlichen Hochplateau "Dome C" auf dem antarktischen Kontinent wird seit 2004 etwa 1.000 Kilometer von der Küste entfernt die französisch-italienische Polarstation Concordia betrieben. Mit ihren zwei turmartigen Gebäuden bietet die Station Platz für eine Dauerbesatzung von 16 Personen, die aus Wissenschaftlern und technischem Personal besteht. Im antarktischen Winter - zwischen Januar und Oktober - ist Concordia komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Die Stationsbesatzung ist in dieser Zeit völlig auf sich allein gestellt – eine Situation, die so sonst nur Astronauten auf Langzeitflügen erleben.