Mainzer Theologieprofessor Ruben Zimmermann veröffentlicht "Ethik des Verzichts" als Handlungstheorie sui generis, die sich durch Freiheit und Flexibilität auszeichnet und damit klar von einer Pflichten- oder Verbotsethik abgegrenzt werden kann
26.03.2025
"Der Mensch ist ein Verzichtswesen. Wir verzichten ständig auf Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, weil es im Abwägungsprozess der Werte besser sein kann, sie nicht zu ergreifen", so Prof. Dr. Ruben Zimmermann von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Das Phänomen des Verzichts könne auf unterschiedlichen Ebenen beobachtet werden: So verzichtet eine werdende Mutter auf bestimmte Genussmittel wie Alkohol, um ihr Kind nicht zu gefährden. Einzelne und Gruppen verzichten beispielsweise in Fastenperioden auf bestimmte Nahrungsmittel, um durch die Abstinenz Gesundheit oder spirituelle Erfahrungen zu fördern. Menschenrechtler*innen oder Klimaaktivist*innen verzichten sogar auf eigene Grundrechte – wie etwa persönliche Entfaltung im Beruf oder Freiheit –, um auf Missstände hinzuweisen. In seiner Handlungstheorie zum Verzicht untersucht Zimmermann das Verbindende dieser unterschiedlichen Verzichtsakte. Dabei verfolgt er anhand einer mehrstelligen Definition des Verzichtens sechs Leitfragen: WER verzichtet? WIE wird verzichtet? Auf WAS wird verzichtet? WANN und WO ist der Verzicht angemessen? WARUM und WOZU wird verzichtet? WESHALB kann verzichtet werden?
Da es um eine "praktische Ethik" geht, wird die theoretische Reflexion anhand vieler Beispiele aus Alltag, Geschichte und Feldern der angewandten Ethik vorangetrieben. Neben einem Blick in antike Wurzeln des Verzichtens – bei Aristoteles, den Stoikern, im frühen Christentum und im rabbinischen Judentum – in Kapitel 2 konkretisiert Zimmermann die Verzichtsethik in drei Kapiteln der angewandten Ethik: In Kapitel 5 wird die Konsumethik beleuchtet, wobei Alternativen zu Wachstumsmodellen wie Ware2Share oder das Phänomen der "Flexitarier", also Fleischverzicht von Zeit zu Zeit, untersucht werden, die modellhaft die Temporalität des Verzichtens vor Augen führen. In Kapitel 6 wendet sich Zimmermann der Klimaethik zu und plädiert angesichts der Dringlichkeit der Situation für das versöhnliche Ineinandergreifen von freiwilligem Verzicht und staatlichen Ordnungsmaßnahmen. Nur wenn gesetzliche Regelungen durch freiwilligen Verzicht flankiert und unterstützt werden, könnten sie akzeptierte Breitenwirkung entfalten. Kapitel 7 befasst sich mit medizinischer Ethik, wobei Verzicht einen Kontrapunkt zum Habitus der Maximaltherapie der modernen Medizin darstelle. Mit dem Phänomen des "Sterbefastens", des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit, wird zudem ein vielfach übersehenes Feld der Medizinethik am Lebensende thematisiert.
Wiederkehrende Grundstrukturen im Verzichten
So unterschiedlich die Verzichtsakte aussehen mögen, zeigen sich nach Zimmermann doch wiederkehrende Grundstrukturen. Menschen verzichten für andere oder höhere Ziele. Diese übergeordneten Werte rechtfertigen die Inkaufnahme von Mühen, die mit dem Verzicht häufig verbunden sind. Aber neben dem Schmerzmoment stelle sich für die Verzichtenden eine neue Art von Freiheit und Souveränität ein. Weniger bleibt zwar weniger, aber es kann trotzdem gut sein und die Erfahrung von Befreiung oder Selfempowerment gegenüber der Fremdbestimmung einer beispielsweise auf Wachstum und Verbrauch ausgerichteten Marktwirtschaft mit sich bringen.
"Es ist eine Ethik für die Habenden und Privilegierten," so Zimmermann, "denn man muss erst einmal Möglichkeiten, Privilegien und Rechte haben, um auf sie verzichten zu können." Die meisten Ethiken würden sich mit gutem Grund um die fehlenden Güter und Optionen der Armen und Marginalisierten bemühen. Soziale Gerechtigkeit könne aber in einer Welt von knappen Ressourcen und planetaren Grenzen nicht entstehen, indem das Niveau auf die Chancen der oberen Mittelschicht in westlichen Industrieländern angehoben werde. Vielmehr sollten auch die Habenden der bürgerlichen Mittelschicht und Reichen überlegen, wo sie auf Möglichkeiten verzichten können, um eine gerechtere Verteilung der Güter zu erreichen. Die Verzichtsethik folge dem antiken Modell der Tugendethik, sei aber zugleich eine mimetische Ethik, die in der Einladung zur Nachahmung auch eine Breitenwirkung und somit Transformation der Gesellschaft ermögliche.
Forschungsprojekte zur Ethiktheorie
Die jetzt vorgelegte Studie kann als Essenz einer längerfristigen Forschung verstanden werden, die in der Reclam-Reihe "Was bedeutet das alles?" auch ein breiteres Publikum anspricht. Prof. Dr. Ruben Zimmermann arbeitet seit 2015 zum Verzichtsphänomen, begonnen mit dem Projekt "Enhancing Life by Waiving of Rights. Towards an Ethic of Relinquishing" im internationalen Forschungsverbund "Enhancing Life" unter Leitung der University of Chicago und der Ruhr-Universität Bochum. In diesem Kooperationsprojekt waren 35 Forschende aus mehr als zehn Disziplinen beteiligt. Am Mainzer Forschungszentrum "Ethik in Antike und Christentum" der Evangelisch-Theologischen Fakultät der JGU wird nicht nur eine Brücke zwischen antiken Ethikkonzepten und aktuellen ethischen Herausforderungen geschlagen, es werden besonders auch ethico-ästhetische Ethikmodelle wie narrative Ethik und zeitsensible Ethik untersucht.
Ruben Zimmermann hat Evangelische Theologie, Philosophie und Diakoniewissenschaft studiert. Seit 2009 ist er Professor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit den Schwerpunkten Bibelwissenschaft (Neues Testament), Hermeneutik und Ethik. Er arbeitet an Brückenschlägen zwischen antiker (biblischer) und gegenwärtiger Ethik, an Ethiktheorie und angewandter Ethik wie der Bio- und Medizinethik oder der Klimaethik. Als Mitglied der Alexander von Humboldt-Stiftung war er zu Forschungsaufenthalten in Pretoria, Nijmegen, Melbourne und New Haven / Yale.