Selbstregulation früh lehren – mit nachhaltiger Wirkung auf den Bildungserfolg von Kindern

Studie der Universitäten Mainz und Zürich belegt hohe Effektivität einer Förderung der Selbstregulation von Erstklässlerinnen und Erstklässlern

13.10.2022

Selbstregulation, also die Fähigkeit, Aufmerksamkeit, Emotionen und Impulse zu kontrollieren sowie individuelle Ziele konsequent zu verfolgen, ist eine Kompetenz, die nicht auf Anhieb mit jungen Kindern in Verbindung gebracht wird. Jedoch haben spätestens die pandemiebedingten Schulschließungen und die immer weiter steigende Nutzung digitaler Medien durch Kinder offenbart, wie wichtig diese Kompetenzen auch für Kinder sind. Der Fähigkeit zur Selbstregulation wird von einflussreichen Institutionen wie der UNESCO eine Schlüsselrolle für den Bildungserfolg im 21. Jahrhundert zugeschrieben. Und es ist weitaus mehr als der Bildungserfolg, für den Selbstregulation langfristig eine Rolle spielt: Studien zeigen, dass Menschen, die als Kinder selbstregulierter sind, später als Erwachsene durchschnittlich ein höheres Einkommen, eine bessere Gesundheit und eine höhere Lebenszufriedenheit haben. Weitere Studien belegen, dass die Selbstregulation bereits im Kindesalter gezielt gestärkt werden kann. Vor diesem Hintergrund erscheint es verwunderlich, dass eine explizite Förderung dieser grundlegenden Kompetenz bisher nicht im alltäglichen Schulunterricht oder in Bildungsplänen verankert ist.

Kann eine Förderung der Selbstregulationsfähigkeit in den Grundschulalltag integriert werden, ohne viel Unterrichtszeit zu beanspruchen? Ist es in diesem Rahmen möglich, bereits jungen Schülerinnen und Schülern eine abstrakte Selbstregulationsstrategie kindgerecht zu vermitteln, sodass sie diese eigenständig auch außerhalb des Unterrichts auf ihre individuellen Ziele anwenden können? Lassen sich Effekte verbesserter Selbstregulation nach einer Unterrichtseinheit zur Förderung der Selbstregulation nachweisen? Hat diese Unterrichtseinheit das Potenzial, den langfristigen Bildungserfolg zu verbessern? Wie könnte eine solche Förderung gestaltet werden, damit sie flächendeckend praktisch einsetzbar ist? Diese Fragen haben sich Prof. Dr. Daniel Schunk, Dr. Eva Berger, Dr. Henning Hermes und Prof. Dr. Kirsten Winkel am Potentialbereich Interdisciplinary Public Policy (IPP) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) sowie Prof. Dr. Ernst Fehr vom Department of Economics der Universität Zürich, Preisträger des Gutenberg Research Award 2014 der JGU, gestellt.

Randomisiert kontrollierte Studie zeigt signifikante Verbesserungen der Selbstregulation bei Grundschülerinnen und -schülern

Mit einer randomisiert kontrollierten Studie mit insgesamt mehr als 500 Erstklässlerinnen und Erstklässlern in Grundschulen zeigt das Forschungsteam, dass bereits eine kurze Unterrichtseinheit zu einer signifikanten und nachhaltigen Verbesserung der Selbstregulation führt: Die Forschenden konnten ein Jahr nach der Förderung eine deutlich verbesserte Lesekompetenz und weniger Flüchtigkeitsfehler sowie drei Jahre nach der Förderung eine erheblich erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen Gymnasialbesuch bei den Kindern feststellen. Die Ergebnisse der Studie sind in der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift Nature Human Behaviour veröffentlicht.

Basierend auf Bedenken aus der Praxis wegen bereits sehr voller Schulcurricula haben die Forschenden die Unterrichtseinheit hochgradig kosten- und zeiteffizient konzipiert, sodass sie flächendeckend in Grundschulen einsetzbar ist: Die Unterrichtseinheit selbst dauert nur fünf Schulstunden. Die Klassenlehrerinnen und -lehrer nehmen an einer dreistündigen Fortbildung teil und werden mit vollständig entwickelten Unterrichtsmaterialien ausgestattet, sodass sie die vorbereiteten Unterrichtsstunden unmittelbar in den regulären Stundenplan integrieren können. Die Unterrichtseinheit basiert auf der MCII-Strategie, kurz für "Mental Contrasting with Implementation Intentions", die für Erwachsene und ältere Schülerinnen und Schüler bereits gut erforscht ist: Die Klassenlehrerinnen und -lehrer vermitteln die abstrakte Strategie spielerisch mithilfe eines Bilderbuchs und der Identifikationsfigur HÜ, dem Hürdenüberspringer. Im ersten Schritt stellen sich die Kinder die positiven Effekte eines erreichten Ziels vor. Sie kontrastieren diese zu den Hindernissen, die ihnen auf dem Weg zum Ziel entgegenstehen ("Mental Contrasting"). Im Anschluss identifizieren die Kinder konkrete Verhaltensweisen, um den Hindernissen zu begegnen, und sie entwickeln daraus "Wenn-dann-Pläne" ("Implementation Intention").

Nachhaltige Förderung von Schlüsselkompetenzen

Einer der Autoren der Studie, Prof. Dr. Ernst Fehr von der Universität Zürich, stellt fest: "Die weitreichende Bedeutung von Selbstregulationsfähigkeiten ist schon lange bekannt. Mit dieser Studie zeigen wir nun, wie wir die explizite Förderung dieser Fähigkeit schon früh im Grundschulunterricht einbetten können. Die Steigerung der Selbstregulation bewirkt, dass die Kinder mehr Verantwortung für das eigene Lernen übernehmen und sich selbst Ziele setzen und daran arbeiten. Dank der leichten Skalierbarkeit könnten so also flächendeckend Schlüsselkompetenzen von Kindern verbessert werden, die heutzutage von fundamentaler Bedeutung für einen erfolgreichen Bildungsweg und für ein gelingendes Leben sind."

Prof. Dr. Daniel Schunk von der JGU, ebenfalls Autor der Studie, hebt hervor: "Das Besondere an unserer Studie sind die langfristigen Transfereffekte einer kurzen Unterrichtseinheit. Diese kommen zunächst dem Kind zugute, übertragen sich aber im weiteren Lebenszyklus des Kindes in vielfacher Weise auf die ganze Gesellschaft. Dass frühe Investitionen in so grundlegende Kompetenzen nicht nur dem Kind alleine, sondern auch der Gesellschaft sehr viel bringen, sollte mehr bildungspolitische Beachtung finden."