Wichtiger Meilenstein im Experiment "Project 8" zur Messung der Neutrinomasse erreicht
07.09.2023
Neutrinos sind allgegenwärtige Elementarteilchen, die nur sehr schwach mit normaler Materie wechselwirken. Deshalb durchdringen sie diese meist ungehindert und werden daher auch Geisterteilchen genannt. Nichtsdestotrotz spielen Neutrinos eine überragende Rolle im frühen Universum. Um vollständig erklären zu können, wie sich unser Universum entwickelt hat, müssen wir vor allem ihre Masse kennen. Doch bisher ist es nicht gelungen, diese Masse zu bestimmen.
Das möchte die internationale Project-8-Kollaboration mit ihrem neuen Experiment jetzt ändern. Project 8 setzt erstmals auf eine völlig neue Technologie zur Bestimmung der Neutrinomasse, die sogenannte Cyclotron Radiation Emission Spectroscopy (CRES). In einer aktuellen Veröffentlichung in der renommierten Fachzeitschrift Physical Review Letters konnte die Project-8 -Kollaboration jetzt zeigen, dass die CRES-Methode tatsächlich dazu geeignet ist, die Neutrinomasse zu bestimmen und hat dabei in einer ersten Messung bereits eine obere Grenze für diese fundamentale Größe gesetzt – ein wichtiger Meilenstein ist damit erreicht. Von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) sind die Arbeitsgruppen von Prof. Dr. Martin Fertl und Prof. Dr. Sebastian Böser beteiligt, beide Forscher am Exzellenzcluster PRISMA+. Dr. Christine Claessens, ehemalige Doktorandin von Sebastian Böser und nun Postdoc an der University of Washington in Seattle in den USA hat im Rahmen ihrer Doktorarbeit einen entscheidenden Beitrag zu der aktuellen Veröffentlichung geleistet.
Elektronen als Schlüssel zur Neutrinomasse
Das Project-8-Experiment nutzt den Beta-Zerfall von radioaktivem Tritium, um der Neutrinomasse auf die Spur zu kommen. Tritium ist ein schwerer Verwandter des Wasserstoffs, ein sogenanntes Isotop. Es ist instabil und besteht aus einem Proton und zwei Neutronen. Durch Umwandlung eines dieser Neutronen in ein Proton zerfällt Tritium zu Helium und sendet dabei ein Elektron und ein Antineutrino aus. "Und nun kommt der Clou", sagt Prof. Dr. Martin Fertl. "Da Neutrinos und ihre Antiteilchen keine elektrische Ladung haben, sind sie sehr schwer nachzuweisen. Wir versuchen daher erst gar nicht, sie aufzuspüren. Stattdessen messen wir die Energie der entstehenden Elektronen über ihre Umlauffrequenz in einem Magnetfeld. Anhand der Form des Energiespektrums der Elektronen bestimmen wir dann die Neutrinomasse beziehungsweise setzen so eine Obergrenze für diese Masse."
Sehr präzise Messung der Elektronenenergie ist nötig
Um belastbare Ergebnisse zu erhalten, muss die Energie der Elektronen extrem präzise gemessen werden. Denn das entstehende (Anti)Neutrino ist unglaublich leicht, mindestens 500.000 Mal leichter als ein Elektron. "Wenn Neutrinos und Elektronen gleichzeitig erzeugt werden, hat die Neutrinomasse nur einen winzigen Einfluss auf die Bewegung des Elektrons. Und diesen kleinen Effekt wollen wir sehen", erläutert Prof. Dr. Sebastian Böser. Die Methode, die das möglich macht, ist die Cyclotron Radiation Emission Spectroscopy, kurz CRES. Mit ihr wird die Mikrowellenstrahlung registriert, die von den entstehenden Elektronen ausgesandt wird, wenn sie in einem Magnetfeld auf eine Kreisbahn gelenkt werden. Die Frequenz der emittierten Strahlung lässt sich extrem präzise bestimmen und dann über die Elektronenenergie auf die Masse des Neutrinos rückschließen.
Damit das funktioniert, hat Christine Claessens einen entscheidenden experimentellen Beitrag geleistet: "Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich unter anderem ein Ereignis-Detektionssystem, bestehend aus einem Echtzeit-Trigger und einer Offline-Ereignisrekonstruktion, entwickelt. Dieses System sucht in dem kontinuierlich digitalisierten und verarbeiteten Hochfrequenzsignal nach den charakteristischen CRES-Merkmalen. Die Rekonstruktion der Startfrequenz jedes Elektronenereignisses ermöglicht die hochpräzise Aufnahme eines Tritium-Zerfallsspektrums." Auf dieser Grundlage gelang Claessens die Analyse des ersten mit CRES aufgenommenen Tritium-Spektrums im Hinblick auf systematische Unsicherheiten – und somit die Berechnung einer ersten Obergrenze für die Neutrinomasse mit dieser neuen Technologie, die nun Eingang in die neueste Publikation gefunden hat.
Dort berichtet die Project-8-Kollaboration konkret von 3.770 Tritium-Beta-Zerfallsereignissen, die sie über einen Zeitraum von 82 Tagen in einer Probenzelle von der Größe einer Erbse registriert hat. Die Probenzelle wird auf sehr tiefe Temperaturen gekühlt und in ein Magnetfeld gebracht, das die austretenden Elektronen so lange auf einer Kreisbahn laufen lässt, dass die Detektoren ein Mikrowellensignal registrieren können. Entscheidend ist, dass keine falschen Signale oder Hintergrundereignisse registriert werden, die mit dem echten Signal verwechselt werden könnten oder dieses überdecken. "Die daraus resultierende erstmalige Bestimmung der Obergrenze für die Neutrinomasse mit einer rein frequenzbasierten Messtechnik ist ein sehr vielversprechendes Resultat, da wir Frequenzen heutzutage sehr genau messen können", so das Fazit von Prof. Dr. Sebastian Böser und Prof. Dr. Martin Fertl.
Nächste Schritte sind schon in Angriff genommen
Nach dem erfolgreichen "Proof of Principle" steht der nächste Schritt an: Für das finale Experiment brauchen die Forschenden einzelne Tritiumatome, die sie aus der Spaltung von Tritium-Molekülen erzeugen. Das ist knifflig, da Tritium, genau wie Wasserstoff, bevorzugt Moleküle bildet. Die Entwicklung einer solchen Quelle – zunächst für atomaren Wasserstoff und später für atomares Tritium – ist ein wichtiger Beitrag des Mainzer Teams.
Im Moment arbeitet die Project-8-Kollaboration, an der Mitglieder aus zehn Forschungseinrichtungen weltweit beteiligt sind, an der Erprobung von Entwürfen für die Vergrößerung des Experiments von einer erbsengroßen Probenkammer auf eine tausendmal größere. So sollen noch weit mehr Beta-Zerfallsereignisse registriert werden. Am Ende eines mehrjährigen Forschungs- und Entwicklungsprogramms soll das Project-8-Experiment die Empfindlichkeit bisheriger Experimente – wie des aktuellen KATRIN-Experiments – schließlich übertreffen und so erstmals einen Wert für die Neutrinomasse ermitteln.