Schwefelwasserstoff verliert elektrischen Widerstand unter hohem Druck bei minus 70 Grad Celsius

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Chemie und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beobachten neues Rekordhoch für Supraleitung / Publikation in Nature

17.08.2015

Forscher des Mainzer Max-Planck-Instituts für Chemie und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) haben beobachtet, dass Schwefelwasserstoff bei minus 70 Grad Celsius und einem Druck von 1,5 Millionen Bar – der Hälfte des Drucks im Inneren der Erde – supraleitend wird, also seinen elektrischen Widerstand bei Temperaturen verliert, die in den polaren Gebieten der Erde durchaus auftreten können. Damit haben die Mainzer Forscher nicht nur ein Rekordhoch für die Supraleitung aufgestellt, sie weisen mit ihren Erkenntnissen auch einen neuen Weg, auf dem sich möglicherweise Strom bei Raumtemperatur energieverlustfrei transportieren lässt. Das Paper "Conventional superconductivity at 203 K at high pressures" ist am 17. August 2015 in der renommierten Fachzeitschrift Nature erschienen.

Alltagstaugliche Supraleiter sind ein Traum vieler Festkörperphysiker. Bislang sind nur Materialien bekannt, die Strom bei sehr tiefen Temperaturen ohne elektrischen Widerstand und mithin energieverlustfrei leiten. So besetzten in puncto Sprungtemperatur, also der Temperatur, bei der ein Material seinen Widerstand verliert, bisher spezielle Kupferoxidkeramiken, sogenannte Kuprate, die vorderen Plätze. Der Rekord einer solchen Keramik liegt bei etwa minus 140 Grad Celsius unter normalem Luftdruck und minus 109 Grad Celsius unter hohem Druck. In den Keramiken tritt dabei eine spezielle, unkonventionelle Form der Supraleitung auf. Um die konventionelle Supraleitung zu erreichen, waren bisher sogar mindestens minus 234 Grad Celsius nötig.

Ein Team um Dr. Mikhail Eremets, Leiter der Arbeitsgruppe "Hochdruck-Chemie und Physik" am Max-Planck-Institut für Chemie, hat in Zusammenarbeit mit Dr. Vadim Ksenofontov und Sergii Shylin vom Institut für Anorganische Chemie und Analytische Chemie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz jetzt die konventionelle Supraleitung in herkömmlichem Schwefelwasserstoff unter hohem Druck mit der bislang höchsten bestätigten Sprungtemperatur (Tc) beobachtet. Das Überraschende ist, dass dieser supraleitende Zustand für Schwefelwasserstoff bei 1,5 Millionen Bar und unterhalb von 203 Kelvin, also minus 70 Grad Celsius, auftritt. Die Schallmauer der bisher bekannten High-Tc-Materialien wie Kupferoxidkeramiken liegt bei etwa 138 Kelvin, also minus 135 Grad Celsius.

"Mit unseren Experimenten haben wir einen neuen Rekord für die Temperatur aufgestellt, bei der ein Material supraleitend wird", erklärt Dr. Mikhael Eremets. Außerdem hat sein Team erstmals experimentell nachgewiesen, dass es konventionelle Supraleiter mit hoher Sprungtemperatur gibt. Theoretische Berechnungen hatten das unter anderem für Schwefelwasserstoff bereits vorhergesagt. "Es ist vielversprechend, nach anderen Materialien zu suchen, in denen konventionelle Supraleitung bei hohen Temperaturen auftritt", so der Physiker. "Denn für die Sprungtemperatur konventioneller Supraleiter gibt es theoretisch keine Grenze und unsere Experimente lassen hoffen, dass es sogar bei Raumtemperatur Supraleitung gibt."

Um die Art der Supraleitung zu untersuchen, ermittelten die Forscher in Messungen sowohl des Widerstands als auch der Magnetisierung die Sprungtemperatur des Materials. Den extrem hohen Druck, der nötig ist, um Schwefelwasserstoff bei vergleichsweise moderaten Minusgraden supraleitend zu machen, erzeugten die Forscher in einer speziellen Druckkammer, die weniger als ein Kubikzentimeter groß ist. Durch zwei seitliche Diamantenspitzen, die wie Ambosse wirken, können sie den Druck auf die Probe stetig erhöhen. Die Zelle ist mit Kontakten versehen, um den elektrischen Widerstand der Probe zu messen. In einer anderen Hochdruckzelle können die Forscher zudem die magnetischen Eigenschaften eines Materials untersuchen, die sich bei der Sprungtemperatur ebenfalls ändern. Nachdem die Forscher flüssigen Schwefelwasserstoff in eine solche Druckkammer gefüllt hatten, erhöhten sie den Druck auf die Probe schrittweise von etwa einem auf zwei Megabar und veränderten für jeden Druck auch die Temperatur. Dabei ermittelten sie in Messungen sowohl des Widerstands als auch der Magnetisierung die Sprungtemperatur des Materials. Die Messungen der Magnetisierung sind dabei aussagekräftiger, weil ein Supraleiter ideale diamagnetische Eigenschaften besitzt. Dr. Vadim Ksenofontov und Sergii Shylin vom Institut für Anorganische Chemie und Analytische Chemie der JGU konnten so den Beweis erbringen, das der Mechanismus als konventionelle Supraleitung zu beschreiben ist. Hierzu führten sie magnetische Hochdruckuntersuchungen durch, um den Meissner-Effekt zu messen. Zur Durchführung dieser Experimente wurden besondere Hochdruckmesszellen entwickelt, die es ermöglichen, im Magnetfeld spezifische Kenngrößen mit großer Genauigkeit zu bestimmen.

Dass Schwefelwasserstoff unter hohem Druck seinen elektrischen Widerstand schon bei relativ hohen Temperaturen verliert, führen die Wissenschaftler vor allem auf eine Eigenschaft des Wasserstoffs zurück: Wasserstoffatome schwingen im Kristallgitter mit der höchsten Frequenz aller Elemente, weil Wasserstoff am leichtesten ist. Da die Schwingungen des Kristallgitters die konventionelle Supraleitung vermitteln – und zwar desto effektiver, je schneller die Atome schwingen –, weisen Materialien mit viel Wasserstoff eine relativ hohe Sprungtemperatur auf. Außerdem treiben starke Bindungen zwischen den Atomen die Temperatur in die Höhe, bei der ein Material supraleitend wird. Beide Bedingungen sind in H3S erfüllt, und genau diese Verbindung bildet sich bei hohem Druck aus H2S.

Nun suchen die Mainzer Wissenschaftler nach Materialien mit noch höheren Sprungtemperaturen. Den Druck auf Schwefelwasserstoff über 1,5 Megabar hinaus zu erhöhen, hilft dabei nicht. Das haben theoretische Physiker nicht nur berechnet, das Mainzer Team hat dies auch experimentell bestätigt. Bei noch höherem Druck verändert sich das Gefüge der Elektronen nämlich so, dass die Sprungtemperatur wieder sinkt. "Ein offensichtlicher Kandidat für eine hohe Sprungtemperatur ist reiner Wasserstoff", so Eremets. "Man erwartet, dass er unter hohem Druck schon bei Raumtemperatur supraleitend wird." Mit ihm experimentieren die Wissenschaftler bereits, doch die Versuche sind sehr schwierig, weil dafür Drücke von drei bis vier Megabar nötig sind.

"Unsere Untersuchung an Schwefelwasserstoff zeigt aber, dass viele wasserstoffreiche Materialien eine hohe Sprungtemperatur besitzen können", erläutert Eremets. Dabei muss extrem hoher Druck gar nicht immer nötig sein, um eine hohe Sprungtemperatur zu erreichen. Derzeit brauchen die Mainzer Forscher den hohen Druck, um Materialien, die wie Schwefelwasserstoff elektrisch isolierend wirken, in Metalle zu verwandeln. "Möglicherweise gibt es Polymere oder andere wasserstoffreiche Verbindungen, die sich auf andere Weise metallisch machen lassen und bei Raumtemperatur supraleitend werden", so der Physiker. Ließen sich solche Materialien finden, gäbe es Supraleiter, die für eine breite technische Anwendung brauchbar sind.