Schlechteres Gedächtnis trotz weniger Amyloid-Ablagerungen

Neue Befunde in der Alzheimer-Forschung

09.08.2013

Für die Alzheimersche Krankheit sind amyloide Plaques charakteristisch. Lange Zeit galten diese Ablagerungen auch als Ursache für die schweren kognitiven Defizite, mit denen Alzheimer einhergeht. Derzeit mehren sich jedoch die Hinweise, die die Rolle der Ablagerungen als Krankheitsauslöser infrage stellen. Die Mainzer Wissenschaftler der Arbeitsgruppe "Biochemie der Neurodegeneration und des Alterns" um Prof. Dr. Christian Behl, Direktor des Instituts für Pathobiochemie der Universitätsmedizin Mainz, konnten jetzt in einem spezifischen Mausmodell nachweisen, dass trotz einer reduzierten Plaques-Anzahl die Lern- und Gedächtnisfähigkeit stark beeinträchtigt war. Die Ergebnisse wurden kürzlich in der amerikanischen Fachzeitschrift Neurobiology of Aging veröffentlicht.

"Im Gehirn von Alzheimer-Patienten finden sich extrazelluläre Ablagerungen von Amyloid beta. Welche Rolle diesen Plaques in der Krankheitsentstehung genau zukommt, erforschen wir seit vielen Jahren", erläutert Behl. "Uns interessiert beispielsweise, wie die Entstehung, also die Prozessierung, von Amyloid beta aus seinem Vorläuferprotein APP, dem Amyloid-Precursor-Protein, abläuft. Das APP scheint im Gehirn wichtige Funktionen zu erfüllen."

Teil des zentralen Nervensystems ist das sogenannte Endocannabinoidsystem. Dabei handelt es sich um ein vielseitiges Signalsystem im Körper, das an der Regulierung zahlreicher physiologischer Funktionen wie Gehirnentwicklung, Gedächtnis und Kontrolle der Motorik beteiligt ist. Cannabinoide weisen neuromodulatorische und neuroprotektive Effekte auf und beeinflussen die Gedächtnisleistung. Der Einfluss des Endocannabinoidsystems auf die Pathologie der Alzheimerschen Krankheit wurde im Rahmen der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschergruppe 926: "Physiologie und Pathophysiologie des Endocannabinoidsystems" in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Beat Lutz vom Institut für Physiologische Chemie der Universitätsmedizin Mainz untersucht

In dem Forschungsprojekt wurden Mäuse mit ausgeschaltetem Cannabinoid-Rezeptor CB1 mit einem zur Erforschung der Alzheimer-Krankheit gängigen Mausmodell gekreuzt. Den Wissenschaflern fiel zunächst auf, dass die Nachkommen, denen CB1 fehlte, ein geringeres Körpergewicht hatten. "Die meisten von ihnen starben, bevor wir die typischen Demenzsymptome nachweisen konnten. In den verbliebenen Tieren stellten wir im Vergleich zu den Kontrollmäusen geringere Mengen an APP und seinen Fragmenten fest – und folgerichtig auch eine reduzierte Anzahl Plaques sowie eine verminderte Entzündung der entsprechenden Hirnregion", so Christof Hiebel, der mit seinem Dissertationsprojekt an der Forschungsarbeit beteiligt war. "Die Defizite, was Lernen und Gedächtnis betraf, waren in den Alzheimer-Mäusen ohne CB1 jedoch größer", erläutert Hiebel.

"Es ist uns in unserem experimentellen System gelungen, ganz klar aufzuzeigen, dass die Belastung mit amyloiden Plaques und der Verlust an kognitiven Fähigkeiten nicht direkt korrelieren", betont Prof. Dr. Christian Behl. "Es ist seit Längerem bekannt, dass auch in den Gehirnen gesunder alter Menschen senile Plaques auftreten können. Darüber hinaus werden in den letzten Jahren immer seltener die großen, mikroskopisch sichtbaren Proteinaggregate für den Nervenzelltod verantwortlich gemacht, sondern zunehmend deren Vorstufen, die sogenannten Amyloid beta-Oligomere. Dennoch wurde meiner Meinung nach die Rolle von Amyloid beta weiterhin deutlich überbewertet und viele alternative Forschungsansätze wurden fast völlig ausgeblendet", so Behl weiter.

Der generelle Befund, dass das Ausmaß der Amyloid-Plaques nicht in direktem Zusammenhang mit jenem der kognitiven Defizite steht, hat auch auf bereits bestehende Behandlungs- und Forschungsansätze weitreichenden Einfluss. Beispielsweise ist eine Immunisierung mit Amyloid beta stark infrage gestellt. Diese Behandlungsmethode wird derzeit als Therapieoption gehandelt, um die Entwicklung neuritischer Plaques zu verhindern oder gar rückgängig zu machen – und das trotz massiver Rückschläge in klinischen Studien. Ebenso sind Ansätze, die darauf abzielen, die Spaltung von APP gezielt zu beeinflussen, weiter geschwächt.

Behl spricht sich daher für eine Umverteilung der Forschungsressourcen aus: Seiner Ansicht nach wäre es konsequent, die Amyloid-Forschung, auf der jahrzehntelang der Schwerpunkt der Alzheimer-Forschung lag, zurückzufahren. Stattdessen sollte der Fokus auf der Entwicklung neuer therapeutischer Strategien und deren Grundlagen liegen. Seine Arbeitsgruppe im Institut für Pathobiochemie der Universitätsmedizin Mainz konzentriert sich bereits seit einigen Jahren auf die systematische Untersuchung der molekularen Zusammenhänge zwischen der Biochemie alternder Neuronen und der Neurodegeneration. "Erst wenn wir erfassen, was die grundlegenden molekularen Prozesse in alten und jungen Nervenzellen unterscheidet, werden wir auch die Entstehung altersassoziierter neurodegenerativer Erkrankungen verstehen können", ist Behl überzeugt.

In der zweiten Förderperiode der DFG-Forschergruppe wird nun der regulatorische Einfluss des Cannabinoid-Rezeptors auf die Prozessierung des Amyloid-Vorläuferproteins APP weiter untersucht. Dies insbesondere auch, weil die jetzt veröffentlichten Resultate nahelegen, dass ein beeinträchtigtes Endocannabinoidsystem die kognitiven Defizite in Alzheimer-Patienten verstärken kann.