Reform des Sozialstaats: Wirtschaftswissenschaftler Klaus Wälde bringt Kindergartenpflicht in Diskussion

Armutsbekämpfung sollte kurzfristig durch neue Steuerungsinstrumente und längerfristig durch frühkindliche Bildung erfolgen

19.12.2018

Zu den aktuellen Diskussionen um eine Reform am Sozial- und Arbeitsmarkt schlägt der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Klaus Wälde vor, über den Einsatz neuer Steuerungsinstrumente nachzudenken. "Im unteren Einkommensbereich muss mehr Netto vom Brutto übrigbleiben", sagt Wälde, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU), und unterbreitet dazu konkrete Vorschläge. Außerdem warnt der Wissenschaftler vor lediglich kurzfristigen Maßnahmen und fordert eine mittelfristige Strategie zur Armutsbekämpfung. Eine Möglichkeit wäre die Einführung einer Kindergartenpflicht spätestens ab dem 3. Lebensjahr. "Frühkindliche Bildung darf nicht nur den Kindern aus der Mittel- und Oberschicht zugutekommen, sondern auch den Kindern, die am meisten davon profitieren würden." Die Empfehlungen erfolgen im Rahmen des Forschungsprojekts "Wege aus der Armut. Untersuchungen zur Armutsreduktion in Deutschland", das maßgeblich von Steffi Hahn im Rahmen ihrer Dissertation bearbeitet wird.

Über zehn Jahre nach den Hartz-Reformen wird über alle politischen Lager hinweg die Reform dieser Maßnahmen diskutiert. Ob sich nun aber Befürworter oder Gegner einer Reform der Reformen zu Wort melden, die Diskussionen drehen sich in erster Linie um die Verwendung klassischer Instrumente der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Sollen die Hartz-IV-Sätze angehoben oder beibehalten werden? Soll der Mindestlohn erhöht oder gesenkt werden? Soll es ein Grundeinkommen geben, für das dann aber doch die Bedürftigkeit nachgewiesen werden muss? "Die Überlegungen drehen sich um Instrumente, die ein Problem vielleicht mildern könnten, aber andere Probleme mit sich bringen", stellt Wälde fest. Zum Beispiel soll der Mindestlohn Armut reduzieren, birgt aber die Gefahr in sich, Arbeitslosigkeit zu erzeugen.

"Will man Arbeitslosigkeit verringern, ohne Armut zu erzeugen, oder möchte man Armut verringern, ohne Arbeitslosigkeit zu erzeugen, dann muss über andere Instrumente nachgedacht werden", schreiben Wälde und Steffi Hahn in einem Positionspapier. Das Nettoeinkommen der unteren Einkommensgruppen müsste erhöht werden, etwa über eine negative Einkommensteuer im unteren Lohnbereich, über Zuschüsse zu Sozialversicherungsabgaben oder über ein bedingungsloses Grundeinkommen. Dadurch würden Anreize, einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachzugehen, erhöht.

Mittelfristige Armutsbekämpfung zentrale Aufgabe

Allerdings wäre ein solches Vorgehen nur auf relativ kurze Sicht von Nutzen. "Umverteilung ist sicher eine gute Idee", so Wälde. "Aber zukünftige Generationen müssen auch befähigt werden, selbstständig der Armut zu entkommen." Armut sei ein Teufelskreis und sollte daher nicht als individuelles Problem behandelt, sondern über Generationen und längere Zeiträume hinweg bekämpft werden. Dies sei über frühkindliche Bildung zu erreichen, wie auch neue Studien aus den USA bestätigen.

Denke man die Reform des Sozialstaates zu Ende und fasse die Bekämpfung von Armut mittelfristig ins Auge, dann sei eine Kindergartenpflicht spätestens ab dem 3. Lebensjahr folgerichtig, so die beiden Autoren. "Eine Kindergartenpflicht erscheint zunächst als massive Bevormundung und greift stark in die Familien und in die Sozialstrukturen ein. Andererseits muss unserer Gesellschaft an einer guten Ausbildung aller Bevölkerungsschichten gelegen sein, und eine Kindergartenpflicht wäre im Prinzip nichts anderes als die Schulpflicht, nur in einem früheren Alter", sagt Wälde zum Pro und Contra der Vorschläge.

Wenn sich die Bundesrepublik auf den Weg mache, ihr Sozialsystem zu erneuern, dann sollten dabei zwei Dinge beachtet werden. "Wir brauchen einerseits neue Instrumente, die Armut sofort und unmittelbar reduzieren, aber nicht Arbeitslosigkeit erzeugen. Andererseits brauchen wir Instrumente, die Armut auch mittelfristig angehen", fassen die Ökonomen zusammen. Kinder und Jugendliche müssten durch eine bessere Betreuung in Ausbildungsstätten ihren eigenständigen Weg aus der Armut finden. Eine Kindergartenpflicht ab dem 2. oder 3. Lebensjahr scheint die logische Konsequenz.

Ökonomische Argumente gegenüber ethisch-rechtlichen Positionen abwägen

Jenseits rein ökonomischer Überlegungen erkennen die Autoren auch moralisch-rechtliche Schwierigkeiten, die mit einer Kindergartenpflicht einhergehen. Im Prinzip sei eine Kindergartenpflicht nichts anderes als eine Schulpflicht. Auch wenn man letztere als gerechtfertigt ansieht, dann folgt daraus noch keine Kindergartenpflicht. Grundsätzlich liegt ein verfassungsrechtlicher Wertekonflikt zwischen Gleichheit, die die Kindergartenpflicht unterstützt, auf der einen Seite und Freiheit, die die Autonomie der Eltern unterstützt, auf der anderen Seite vor. Es ist die Aufgabe des Staates, auf das Kindeswohl zu achten. Jedoch muss der Staat auch Freiheitsrechte gewährleisten. Jenseits rein ökonomischer Überlegungen, die zugunsten von Gleichheit und Ausbildung ausfallen, wird die Forderung nach einer Kindergartenpflicht also recht komplex.