MIND Group führt Pionierarbeit in der autonomen Publikation wissenschaftlicher Texte fort
07.03.2017
Erneut zeigt der Mainzer Philosoph Prof. Dr. Thomas Metzinger, wie eine ethisch verantwortungsbewusste Forschungsveröffentlichung im digitalen Zeitalter aussehen kann. Nach dem bereits 2015 veröffentlichten Open-MIND-Projekt gibt Metzinger nun gemeinsam mit Dr. Wanja Wiese den Sammelband "Philosophy and Predictive Processing" (PPP) heraus. Das PPP-Projekt besteht aus 26 Originalbeiträgen, die von 28 internationalen Autorinnen und Autoren eigens hierfür verfasst worden sind. Im Internet ist die Anthologie unter www.predictive-mind.net für alle Interessierten frei zugänglich und wird später dann auch als Buch erscheinen. Anders als beim Open-MIND-Projekt haben alle Beiträge diesmal einen thematischen Fokus, und zwar die philosophische Diskussion zum Thema Predictive Processing.
Predictive Processing – das ist ein Ansatz, der in den Neuro- und Kognitionswissenschaften mittlerweile zu einer eigenen Forschungsrichtung geworden ist. Es handelt sich um eine Theorie, die zwar technisch anspruchsvoll ist und viele Ideen und Begriffe aus der Kognitionswissenschaft in sich vereint, diese jedoch auf ein einziges Prinzip zurückführt. Demnach besteht die Hauptfunktion des menschlichen Gehirns darin, Vorhersagen über sensorische Signale zu erstellen und die Fehler, die es dabei macht, zu minimieren. Unerwartete Signale, wie ein falscher Ton in einer bekannten Melodie, führen zu großen Vorhersagefehlern und stechen in der Wahrnehmung daher besonders deutlich hervor. Aus philosophischer Sicht ist dies unter anderem deswegen relevant, weil Predictive Processing sehr allgemeine und vereinheitlichte formale Beschreibungen der neuronalen Vorgänge liefert, die Wahrnehmen, Denken und Handeln zugrunde liegen, zugleich jedoch auch konkrete Hypothesen darüber nahelegt, auf welche Weise diese Vorgänge die Inhalte bewusster Wahrnehmung formen. Der vorliegende Sammelband bietet einen Einstieg in die aktuelle Debatte und richtet sich dabei speziell an Philosophinnen und Philosophen.
Spätestens seit der Veröffentlichung zweier philosophischer Monografien zu diesem Thema erkennen auch immer mehr Philosophen die Relevanz dieser Strömung für ihr eigenes Forschungsgebiet: 2013 veröffentlichte der Philosoph Jakob Hohwy von der Monash University, Melbourne, "The Predictive Mind" und stellte damit einer breiten Leserschaft die theoretischen Grundlagen von Predictive Processing vor. Darüber hinaus zeigte er durch die Anwendung auf klassische philosophische Probleme, wie fruchtbar der Ansatz für unterschiedliche Disziplinen sein kann. Im Jahr 2016 legte der Philosoph Andy Clark von der University of Edinburgh mit der Monografie "Surfing Uncertainty" einen zweiten Grundstein für eine systematische philosophische Diskussion von Predictive Processing. Beim jetzt veröffentlichten PPP-Projekt handelt es sich um den ersten Sammelband, der sich ausschließlich den philosophischen Implikationen von Predictive Processing widmet. Der Band enthält auch eine kurze, speziell auf die Geisteswissenschaften abgestimmte Einführung in das Thema. Dadurch soll die philosophische Diskussion auf systematische und tiefergehende Weise vorangetrieben werden.
Zugleich fördert Metzinger, der in seinen Aktivitäten durch ein Fellowship des Gutenberg Forschungskollegs (GFK) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) unterstützt wird, auch bei diesem Projekt wieder den akademischen Nachwuchs. Die meisten der am Sammelband beteiligten Autorinnen und Autoren befinden sich in einem frühen Stadium ihrer akademischen Laufbahn. Ferner stammen einige Beiträge, wie schon beim Open-MIND-Projekt, auch diesmal aus dem Umfeld der MIND Group. Diese Nachwuchsgruppe hat Metzinger 2003 gegründet, um jungen deutschen Philosophinnen und Philosophen eine Plattform zu geben, die sie mit der internationalen Forschergemeinschaft in Kontakt bringt und damit an die neuesten Entwicklungen in der modernen Philosophie des Geistes anbindet. Dazu trifft sich eine wechselnde Gruppe von fortgeschrittenen Studierenden, Doktoranden und Nachwuchswissenschaftlern aus vielen Ländern zweimal jährlich am Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) mit prominenten Gästen. Das FIAS unterstützt die Gruppe seit vielen Jahren organisatorisch, die Barbara-Wengeler-Stiftung in München fördert ihre Treffen finanziell und vergibt jährlich einen Preis in Höhe von 10.000 Euro.
"Ich war auf der Suche nach innovativen Formen der Nachwuchsförderung", erklärt Metzinger, Leiter des Arbeitsbereichs Theoretische Philosophie und der Forschungsstelle Neuroethik an der JGU, den Anstoß für die Gründung. In der MIND Group treffen Juniormitglieder nicht nur mit etablierten Wissenschaftlern zusammen, sondern Experten aus der analytischen Philosophie des Geistes oder Ethik begegnen empirisch arbeitenden Forschern aus den Kognitions- und Neurowissenschaften und bilden gemeinsam ein sich entwickelndes Netzwerk, das neue, wegweisende Theorien verfolgt und gleichzeitig versucht, neue Formen von Interdisziplinarität zu kultivieren.
Ein Ergebnis dieser fruchtbaren Zusammenarbeit ist die Online-Publikation Open MIND. Das PPP-Projekt knüpft hier an. "Jeder einzelne der 26 Originalaufsätze wurde viermal begutachtet, von den Autoren und dem Herausgeberteam lektoriert und mit professioneller Unterstützung in drei verschiedenen digitalen Formaten im Internet bereitgestellt", erklärt Metzinger. Auch diesmal gelang es der Gruppe, die Bearbeitungszeiten sehr kurz zu halten: Die Edition wurde in nur 10 Monaten abgeschlossen.